Mein 80jähriger Nachbar, der es an klaren
Worten nie fehlen lässt (was ich mag), hat mich während meiner Jobpausen im
vergangenen Jahr mehrfach gefragt: Haben Sie schon wieder Urlaub? Ich hab ihm jeweils
offen erzählt, warum ich zu Hause bin. Nun warte ich schon auf sein nächstes
Auskunftsersuchen.
Der allgemeine Konsens scheint zu sein, dass es zu einem geordneten Leben gehört, morgens zur Arbeit zu traben und seine Zeit ebenda zu verbringen. Abhängig beschäftigt und optimalerweise in Vollzeit, d. h. 160 h/Monat. Seien die Arbeitsumstände auch noch so haarsträubend und/oder die Arbeitsaufgaben noch so dröge. Quasi ein ungeschriebenes Gesetz.
Mir aber, die ich vorübergehend zu Hause bin, fehlt nichts. Schon gar nicht Arbeit, wie ich sie in vielen Jahren überwiegend kennengelernt habe. Galoppierende Bürokratie überall, ein Ersticken in Papier und Formularen und Prozessen, fortwährendes Tempo, weil stets mehr zu erledigen als in die Arbeitszeit hineinpasst. Unangenehme Machtspielchen und ausgeprägt hierarchisches Verhalten.
Ich finde es zu 100% erfüllend, jeden Tag nach meinem Gusto
gestalten zu können. Auszuschlafen, in Ruhe zu frühstücken, überhaupt: alles in
Ruhe zu tun. Meinem eigenen Rhythmus zu folgen. Lesen, Nachdenken, Themen recherchieren,
Gitarre spielen, mir die vor Jahren verlernten Noten wieder beibringen, ein
gutes Essen kochen. Zeit für meine Familie zu haben, die gerade um ein winziges
Menschlein reicher geworden ist, Zeit für meine Katzen. Aufstehen, wenn ich
munter bin, zu Bett gehen, wenn müde. Zeit und Muße für jegliches Thema, das
mir am Herzen liegt. Zeit, zu schreiben – ein Wunsch, den ich schon lange spazierenführe.
24/7 darf ich mich Dingen zuwenden,
denen ich Sinn abgewinne. Welch ein kostbares Geschenk. So fühlt sich gutes Leben an.
Und Freiheit. Eine Freiheit, die Selbstbestimmung heißt. Ich
selbst bestimme, mit welchen Inhalten ich meine Tage fülle. Was ich tue, wann und wie
lange. Ohne Zwang und Druck, ohne zu erwartendes Lob oder Kritik.
Wenn man den einschlägigen Studien glaubt, ist
Selbstbestimmung einer der stärksten Glücksfaktoren überhaupt. Ich würde das
sofort unterschreiben.
Als Rädchen im Getriebe eigne ich mich schon lange nur noch
bedingt. Habe ich doch nur dieses eine Leben und ist die Welt doch so reich an
Dingen, die es zu entdecken, zu lernen, auszuprobieren gilt. Und: Wäre es nicht
vorzuziehen, das Leben in all seinen Facetten tatsächlich wahrzunehmen mit
allen Sinnen anstatt nur vorbeizuflitzen? Hat das nicht auch mit Lebensgenuss
zu tun? Die Voraussetzung dafür aber ist Zeit.
Den Königsweg in punkto Selbstbestimmung haben vielleicht
jene gefunden, die ihren Lebensunterhalt mit dem verdienen, wofür sie brennen.
Oder – wenn nicht ganz und gar dies – so doch selbstständig arbeiten. Auch wenn
ich aus mancher Erzählung weiß, dass es längst nicht immer ein fröhliches Zuckerschlecken
ist, manchmal mit Existenzunsicherheit oder freiem finanziellen Fall einhergeht.
Für diesen Weg ist mein Sicherheitsbedürfnis wohl zu groß. Mein persönlicher
Königsweg wird deshalb heißen: Teilzeit.
Heut Abend hab ich einen älteren Herrn von nebenan dabei beobachtet,
wie er langsam, sehr langsam und krummgebeugt seinen Weg vom Auto zur Haustür
nahm. Vor eineinhalb Jahren noch schien er fit und gesund; im Sommer 2017 hab
ich manchen Abend mit ihm auf der Gartenbank gesessen und geplaudert. Um den
Garten kümmert sich inzwischen ein Nachbar.
So schnell also kommt das Morgen, an dem nichts mehr ist,
wie es gerade noch war. Bis dahin aber möchte ich ein Leben leben, das in Form
und Inhalt mich und was mir wichtig ist, widerspiegelt. Ein Leben - so selbstbestimmt
wie nur irgend möglich. Und so sind meine Tage nicht banges Warten auf den nächsten Job, sondern eine Zeit, ganz mir gehörend und kostbar.
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