Donnerstag, 2. April 2020

Gustav: Vom Katzenwildling zum Kuschelfreak/Teil 1

Im August 2017 war’s, als ich mich in den großen Roten verliebt hab. Gefunden auf der Seite des Tierheims Pirna. Ein Prachtkerl von einem Kater mit extra dickem runden Kopf, weil nach vorn geknickten Ohren, der ein bissl skeptisch in die Kamera guckte.

Was ich in diesem Moment noch nicht wusste, erfuhr ich am Telefon: Gustav war nach acht Jahren als wilder Kater (später in seinen "Entlassungspapieren" korrigiert auf 10 Jahre) gerade erst in eingefangen und kastriert worden. Auf einem verlassenen Gehöft hatte er mit anderen Katzen zusammengelebt und war mit Menschen kaum in Berührung gekommen.




Ok. Ein Spezialfall also. Dennoch wollte ich ihn mir wenigstens einmal ansehen. (Der Lauf der Dinge dürfte da schon vorprogrammiert gewesen sein…)

Als ich am Wochenende darauf das Tierheim besuchte, führte mich „die Katzenfrau“, die dort mit Herzblut für ihre Schützlinge sorgt, ins Außengehege, vorbehalten den scheuen Katzen - jenen, die nicht sofort das Kuscheltier mimen, wenn sich ihnen ein Mensch nähert, ja sich noch nicht einmal anfassen lassen.

Da also thronte der große rote Wuschel auf seinem Auslug, dem obersten Brett des Geheges. Und ich hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit, ihn aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Der erste optische Eindruck fiel ernüchternd aus: Seine Öhrchen nicht nur nach vorn geknickt, sondern eines von ihnen glatt in der Mitte durchgerissen. Alte Kampfspur. Zudem tränten seine Augen und der rechte Augapfel rutschte nach rechts hinten weg, wenn er zur Seite blickte. Oh oh... ganz schön mitgenommen vom Leben in der Freiheit, der alte Kämpe. Dennoch, er hatte etwas Besonderes, strahlte irgendwie Gelassenheit aus. Flitzte nicht ängstlich wie die anderen Katzen durch die Gegend, sondern beobachtete gelassen das Treiben unter sich. Und ein wahrer Riese war er, mit dicken, plüschigen Katerbacken und einem Schwanz, der der Cheshire Cat aus Alice im Wunderland zur Ehre gereicht hätte, wäre er nur lila gestreift. Ich begann, leise mit ihm zu sprechen. Hatte natürlich auch Leckerlis dabei, aber offenbar war er nur bedingt bestechlich. Insgesamt der Eindruck, er ruhe in sich.  Nicht grad wild auf Menschenkontakt, aber auch kein Paniker. Streicheln kam selbstverständlich nicht in Frage; seine Krallen waren nicht von schlechten Eltern und die Kraft hinter einem Pfotenhieb leicht auszumalen. Aber ohnehin war es für einen solch direkten Kontakt viel zu früh.

Ein Wochenende später erfuhr ich, dass all die anderen Katzen seinen Schutz suchten, wann immer Gefahr im Verzug war, z. B. drohendes Einfangen mit dem Netz zwecks Tierarztbesuch. Dass er draußen eine Katzenfreundin gehabt hatte, von der er nun getrennt war. Und dass er von der gefräßigen Sorte war. Zur Fütterung immer der erste am Napf. Kein Wunder, hatte ihm doch sein Leben als Wildling sicher reichlich karge Zeiten beschert. Wieder sprach ich mit ihm und versuchte diesmal, meine Fingerspitzen ganz in seiner Nähe zu platzieren. Er schlug nicht danach, rückte lediglich ein wenig ab.

Von da an stattete ich Gustav zwei Monate lang bis Ende Oktober an jedem Wochenende lange Besuche ab. Sprach leise mit ihm, versuchte die Distanz zwischen uns zentimeterweise zu verringern. An einem dieser Tage schließlich traute ich mich, im Zeitlupentempo einen Finger nach seiner Stirn auszustrecken und – durfte ihm tatsächlich ganz vorn zwischen den Ohren ein winziges „Loch“ ins Fell kraulen. 

Ich glaube, dieser Moment war’s, in dem sich die Frage entschied, die ich wochenlang mit mir spazierengeführt hatte: Traue ich mir zu, den Wildling bei mir einzubürgern oder lass es besser, weil ich mir damit möglicherweise Probleme organisiere, die sich vorab gar nicht einschätzen lassen? Immerhin würde Gustav mehrere Monate drinnen bleiben müssen, bis er meine Wohnung als sein neues Zuhause akzeptiert. Zudem war sein Gesundheitszustand nach langer Wildlingskarriere schwer einschätzbar; im schlimmsten Falle würde ich ein chronisch krankes Tier adoptieren. All diese Erwägungen hatten mich zögern lassen, umso mehr, da ich nach den leidvollen Vormonaten mit meinem geliebten Katzenbuddha Fredi ähnlich geartete Probleme gewiss nicht wollte.

Außer Frage stand jedoch: Ich hatte den großen Roten von Besuch zu Besuch mehr ins Herz geschlossen. Und klar – grundsätzlich liebe ich Herausforderungen …  Anfang November machte ich Nägel mit Köpfen: Ja, ich hole ihn zu mir, gehe das Risiko ein.

Als es soweit war, saß er bereits separiert in einer kleinen Box. Recht lethargisch – a la Augen zu und durch - der Dinge harrend, die da kommen sollten. Vollkommen stoisch ließ er sich von der Tierpflegerin sogar streicheln, hatte sich offenbar in sein Schicksal ergeben, wie immer es auch aussehen mochte. Auch im Auto auf der Fahrt in sein neues Zuhause tat er keinen Mucks.

Als ich ihn daheim aus der Transportbox entließ, wollte er sofort mit meiner Katze Freundschaft schließen, aber daraus wurde erst einmal nichts. Anita, sonst eigentlich sanfte Schmusepuppe, war keineswegs amüsiert über den Neuzugang in ihrem Revier. Meins! Ok, giftig kann sie also auch - ich war überrascht. Gustav ebenfalls. Und wollte angesichts der unfreundlichen Begrüßung sofort durch die Katzenklappe entfleuchen. Die aber war arretiert. Also richtete er sich bis auf Weiteres hinter dem Sofa ein …

Mit Speck fängt man Mäuse, mit gekochtem Hühnchen verfressene Kater. Gustav ließ sich nicht lange bitten und bald konnte ich den Fressnapf jeden Tag ein bisschen weiter entfernt von seinem Versteck platzieren. „Auf freiem Feld“ sozusagen. Nach zwei Wochen traute er sich in Erwartung der leckeren Mahlzeit bereits bis zur Küchentür. Und auch Anita machte sich langsam locker …

Was ich von Anfang an wusste: Ich werde sein eigenes Tempo ganz und gar respektieren. Nichts versuchen zu beschleunigen. Er darf den jeweils nächsten Schritt hin zu mehr Vertrauen selbst tun und zwar genau dann, wenn er es möchte. Nur so kann es funktionieren, Vertrauen aufzubauen. Jegliches „zu schnell“ könnte alles wieder einreißen, was bereits gewonnen schien.

Woran sich Gustav erstaunlich schnell gewöhnte, war die Geräuschkulisse einer menschlichen Behausung: Musik, Gitarrenspiel, der (von Katzen überwiegend gehasste) Staubsauger, der nach zwei Wochen Schonzeit wieder zum Einsatz kam. Glücklicherweise auch kein Problem: das Drinbleibenmüssen. Weder gab es Kämpfe mit der Katzenklappe, die ich vorsichtshalber zusätzlich mit einer Kiste verbarrikadiert hatte, noch das Ansinnen, durch Türen oder Fenster nach draußen zu entwischen. Darüber war ich mehr als erleichtert, da es allen Beteiligten während der Eingewöhnungszeit eine Menge Stress und Drama ersparte.

Mitte Dezember – nur vier Wochen nach seinem Einzug - lag mein großer Roter bereits ausgestreckt mitten auf dem Wohnzimmerteppich, sein Versteck nur noch ab und an aufsuchend und bald darauf gegen die „Höhle“ unter’m Doppelbett im Schlafzimmer tauschend. Bis ich ihn eines Morgens bequem hingelümmelt im großen Katzenkorb im Wohnzimmer fand. Der vollkommen frei steht. Unversteckt, ungeschützt. Also schien Gustav sich in seinem neuen Zuhause sicher zu fühlen. Offenbar bahnte sich hier eine Erfolgsstory an und das in einer Geschwindigkeit, die ich mir nicht träumen lassen hätte. Selbst der musikalisch lautstarke, turbulente Weihnachtsabend mit meiner Familie tat dieser Entwicklung keinerlei Abbruch und der große kuschlige Katzenkorb war bald Gustavs favorisierter Schlafplatz. Sofern Anita nicht schneller war …

Streichelversuche wagte ich nach wie vor nur vorsichtig, schob z. B. langsam meine Hand in die Nähe seiner Pfote, wenn er entspannt auf dem Teppichlag. Bis ich sie irgendwann mit den Fingerspitzen berühren durfte. Wann immer jedoch er zurückwich, zog auch ich sofort zurück. Gut für ihn, weil ein Signal, dass ich seine Körpersprache verstehe. Gut für mich, weil pflastersparend.

Das Jahr 2018 hatte längst begonnen und Gustav wurde tagtäglich zutraulicher, mutiger. Fraß längst mit Anita in der Küche, versteckte sich nur noch selten und - unglaublich! - ließ sich sachte bürsten. Als dann der Frühling kam und mit ihm die warmen Tage, beschloss ich, meinem Bauchgefühl zu vertrauen: Ich öffnete die Balkontür. Worauf Anita sofort die Brüstung enterte, um sich zu sonnen, Gustav ihr jedoch keinesfalls folgte. Unsicher und irgendwie besorgt blickte er zu ihr hinauf.  (Inzwischen weiß ich: Er pflegt generell sorgfältig abzuwägen, was er tut – oder eben auch nicht. Bei solchen Gelegenheiten hört man das kleine Katerhirn geradezu rattern …) Nach wenigen Tagen gab sich die Scheu und Gustav war - wieder Freigänger. Der nach jeder Nacht auf Rautze am Morgen zurückkehrte. Mein Bauchgefühl hatte also nicht getrogen, das Vertrauen sich gelohnt. Wie schön … auch diese Hürde war genommen.

Ende April 2018 wurde unsere gemeinsame Erfolgsgeschichte, die mich jeden Tag mit Erstaunen und Dankbarkeit erfüllte, abrupt unterbrochen. Grund: ein notwendiger Tierarztbesuch. Über den ich mehr als unglücklich war, wissend, dass das Einfangen Gustavs durch mich in seinem neuen Refugium und "Verschleppen" zum Tierarzt einen ordentlichen Abbruch an Vertrauen zur Folge haben dürfte. Allein - seinem heillos verfilztem Fell, einem wahren „Teppich“, der ihm selbst sichtlich zu schaffen machte, war mit vorsichtigem Bürsten und Herausschneiden mittels Nagelschere nicht beizukommen. Ein Profi musste ran. (Bei semi- und langem Fell muss regelmäßig und fest gebürstet werden, erst recht, wenn das Winterfell herausfusselt – etwas, das sich selbst domestizierte Katzen nicht immer gefallen lassen.) 

Tierarzttermin also und vorher Sedierung, weil anderenfalls keine Chance, ihn in die Transportbox zu bekommen. Die gesamte Aktion für mich Adrenalin pur, letztlich aber gemeistert. Bis zur Heimkehr. Kaum hatte ich die Transportbox geöffnet, sah ich von Gustav nur noch die Rücklichter. Ich hatte vergessen, die Katzenklappe zu schließen ... Nun war er auf und davon. Mit frisch operierten Zähnen und Teilglatze auf dem Rücken. Shit happens.

Was nun? Ein Tag verging, zwei, drei … kein Gustav. Schon klar. Vielleicht war er bereits auf dem Weg zurück in sein altes Revier bei Pirna. Welch ein dummer Fehler … ich war todunglücklich und frustriert über meine Gedankenlosigkeit. Schaltete eine Suchanzeige bei TASSO, pflasterte meine Siedlung mit Suchplakaten, fragte mich durch Straßen und Gartensparten, aber nichts. Kein einziger Hinweis. Vielleicht also hatte ich meinen großen Roten wieder verloren. Das Leben als Wildling war er schließlich gewöhnt, draußen war Frühling und er zweifellos ein versierter Jäger.


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