Im August 2017 war’s, als ich mich in den großen Roten
verliebt hab. Gefunden auf der Seite des Tierheims Pirna. Ein Prachtkerl von
einem Kater mit extra dickem runden Kopf, weil nach vorn geknickten Ohren, der ein
bissl skeptisch in die Kamera guckte.
Was ich in diesem Moment noch nicht wusste, erfuhr ich am
Telefon: Gustav war nach acht Jahren als wilder Kater (später in seinen "Entlassungspapieren" korrigiert auf 10 Jahre) gerade erst in
eingefangen und kastriert worden. Auf einem verlassenen Gehöft hatte er mit anderen
Katzen zusammengelebt und war mit Menschen kaum in Berührung gekommen.
Ok. Ein Spezialfall also. Dennoch wollte ich ihn mir
wenigstens einmal ansehen. (Der Lauf der Dinge dürfte da schon vorprogrammiert
gewesen sein…)
Als ich am Wochenende darauf das Tierheim besuchte, führte
mich „die Katzenfrau“, die dort mit Herzblut für ihre Schützlinge sorgt, ins
Außengehege, vorbehalten den scheuen Katzen - jenen, die nicht sofort das
Kuscheltier mimen, wenn sich ihnen ein Mensch nähert, ja sich noch nicht einmal
anfassen lassen.
Da also thronte der große rote Wuschel auf seinem Auslug, dem
obersten Brett des Geheges. Und ich hatte ausreichend Zeit und Gelegenheit, ihn
aus nächster Nähe in Augenschein zu nehmen. Der erste optische Eindruck fiel ernüchternd
aus: Seine Öhrchen nicht nur nach vorn geknickt, sondern eines von ihnen glatt in
der Mitte durchgerissen. Alte Kampfspur. Zudem tränten seine Augen und der
rechte Augapfel rutschte nach rechts hinten weg, wenn er zur Seite blickte. Oh
oh... ganz schön mitgenommen vom Leben in der Freiheit, der alte Kämpe.
Dennoch, er hatte etwas Besonderes, strahlte irgendwie Gelassenheit aus.
Flitzte nicht ängstlich wie die anderen Katzen durch die Gegend, sondern
beobachtete gelassen das Treiben unter sich. Und ein wahrer Riese war er, mit dicken,
plüschigen Katerbacken und einem Schwanz, der der Cheshire Cat aus Alice im
Wunderland zur Ehre gereicht hätte, wäre er nur lila gestreift. Ich begann,
leise mit ihm zu sprechen. Hatte natürlich auch Leckerlis dabei, aber offenbar
war er nur bedingt bestechlich. Insgesamt der Eindruck, er ruhe in sich. Nicht grad wild auf Menschenkontakt, aber auch
kein Paniker. Streicheln kam selbstverständlich nicht in Frage; seine Krallen
waren nicht von schlechten Eltern und die Kraft hinter einem Pfotenhieb leicht
auszumalen. Aber ohnehin war es für einen solch direkten Kontakt viel zu früh.
Ein Wochenende später erfuhr ich, dass all die anderen Katzen
seinen Schutz suchten, wann immer Gefahr im Verzug war, z. B. drohendes
Einfangen mit dem Netz zwecks Tierarztbesuch. Dass er draußen eine
Katzenfreundin gehabt hatte, von der er nun getrennt war. Und dass er von der
gefräßigen Sorte war. Zur Fütterung immer der erste am Napf. Kein Wunder, hatte
ihm doch sein Leben als Wildling sicher reichlich karge Zeiten beschert. Wieder
sprach ich mit ihm und versuchte diesmal, meine Fingerspitzen ganz in seiner
Nähe zu platzieren. Er schlug nicht danach, rückte lediglich ein wenig ab.
Von da an stattete ich Gustav zwei Monate lang bis Ende
Oktober an jedem Wochenende lange Besuche ab. Sprach leise mit ihm,
versuchte die Distanz zwischen uns zentimeterweise zu verringern. An einem
dieser Tage schließlich traute ich mich, im Zeitlupentempo einen Finger nach
seiner Stirn auszustrecken und – durfte ihm tatsächlich ganz vorn zwischen den
Ohren ein winziges „Loch“ ins Fell kraulen.
Ich glaube, dieser Moment war’s, in
dem sich die Frage entschied, die ich wochenlang mit mir spazierengeführt
hatte: Traue ich mir zu, den Wildling bei mir einzubürgern oder lass es besser,
weil ich mir damit möglicherweise Probleme organisiere, die sich vorab gar
nicht einschätzen lassen? Immerhin würde Gustav mehrere Monate drinnen bleiben
müssen, bis er meine Wohnung als sein neues Zuhause akzeptiert. Zudem war sein
Gesundheitszustand nach langer Wildlingskarriere schwer einschätzbar; im
schlimmsten Falle würde ich ein chronisch krankes Tier adoptieren. All diese
Erwägungen hatten mich zögern lassen, umso mehr, da ich nach den leidvollen Vormonaten mit meinem geliebten Katzenbuddha Fredi ähnlich geartete Probleme gewiss nicht
wollte.
Außer Frage stand jedoch: Ich hatte den großen Roten von
Besuch zu Besuch mehr ins Herz geschlossen. Und klar – grundsätzlich liebe ich
Herausforderungen … Anfang November machte
ich Nägel mit Köpfen: Ja, ich hole ihn zu mir, gehe das Risiko ein.
Als es soweit war, saß er bereits separiert in einer kleinen
Box. Recht lethargisch – a la Augen zu und durch - der Dinge harrend, die da
kommen sollten. Vollkommen stoisch ließ er sich von der Tierpflegerin sogar
streicheln, hatte sich offenbar in sein Schicksal ergeben, wie immer es auch
aussehen mochte. Auch im Auto auf der Fahrt in sein neues Zuhause tat er keinen
Mucks.
Als ich ihn daheim aus der Transportbox entließ, wollte er
sofort mit meiner Katze Freundschaft schließen, aber daraus wurde erst einmal
nichts. Anita, sonst eigentlich sanfte Schmusepuppe, war keineswegs amüsiert über
den Neuzugang in ihrem Revier. Meins! Ok, giftig kann sie also auch - ich war
überrascht. Gustav ebenfalls. Und wollte angesichts der unfreundlichen
Begrüßung sofort durch die Katzenklappe entfleuchen. Die aber war arretiert. Also
richtete er sich bis auf Weiteres hinter dem Sofa ein …
Mit Speck fängt man Mäuse, mit gekochtem Hühnchen
verfressene Kater. Gustav ließ sich nicht lange bitten und bald konnte ich den
Fressnapf jeden Tag ein bisschen weiter entfernt von seinem Versteck
platzieren. „Auf freiem Feld“ sozusagen. Nach zwei Wochen traute er sich in
Erwartung der leckeren Mahlzeit bereits bis zur Küchentür. Und auch Anita
machte sich langsam locker …
Was ich von Anfang an wusste: Ich werde sein eigenes Tempo
ganz und gar respektieren. Nichts versuchen zu beschleunigen. Er darf den
jeweils nächsten Schritt hin zu mehr Vertrauen selbst tun und zwar genau dann,
wenn er es möchte. Nur so kann es funktionieren, Vertrauen aufzubauen.
Jegliches „zu schnell“ könnte alles wieder einreißen, was bereits gewonnen
schien.
Woran sich Gustav erstaunlich schnell gewöhnte, war die
Geräuschkulisse einer menschlichen Behausung: Musik, Gitarrenspiel, der (von
Katzen überwiegend gehasste) Staubsauger, der nach zwei Wochen Schonzeit wieder
zum Einsatz kam. Glücklicherweise auch kein Problem: das Drinbleibenmüssen.
Weder gab es Kämpfe mit der Katzenklappe, die ich vorsichtshalber zusätzlich mit
einer Kiste verbarrikadiert hatte, noch das Ansinnen, durch Türen oder Fenster
nach draußen zu entwischen. Darüber war ich mehr als erleichtert, da es allen
Beteiligten während der Eingewöhnungszeit eine Menge Stress und Drama ersparte.
Mitte Dezember – nur vier Wochen nach seinem Einzug - lag mein
großer Roter bereits ausgestreckt mitten auf dem Wohnzimmerteppich, sein
Versteck nur noch ab und an aufsuchend und bald darauf gegen die „Höhle“ unter’m
Doppelbett im Schlafzimmer tauschend. Bis ich ihn eines Morgens bequem
hingelümmelt im großen Katzenkorb im Wohnzimmer fand. Der vollkommen frei
steht. Unversteckt, ungeschützt. Also schien Gustav sich in seinem neuen Zuhause sicher zu fühlen. Offenbar bahnte sich hier eine Erfolgsstory an und das in einer
Geschwindigkeit, die ich mir nicht träumen lassen hätte. Selbst der musikalisch lautstarke, turbulente
Weihnachtsabend mit meiner Familie tat dieser Entwicklung keinerlei Abbruch und
der große kuschlige Katzenkorb war bald Gustavs favorisierter Schlafplatz.
Sofern Anita nicht schneller war …
Streichelversuche wagte ich nach wie vor nur vorsichtig, schob
z. B. langsam meine Hand in die Nähe seiner Pfote, wenn er entspannt auf dem Teppichlag. Bis ich sie irgendwann mit den Fingerspitzen berühren durfte. Wann
immer jedoch er zurückwich, zog auch ich sofort zurück.
Gut für ihn, weil ein Signal, dass ich seine Körpersprache verstehe. Gut für
mich, weil pflastersparend.
Das Jahr 2018 hatte längst begonnen und Gustav wurde
tagtäglich zutraulicher, mutiger. Fraß längst mit Anita in der Küche, versteckte
sich nur noch selten und - unglaublich! - ließ sich sachte bürsten. Als dann der
Frühling kam und mit ihm die warmen Tage, beschloss ich, meinem Bauchgefühl zu
vertrauen: Ich öffnete die Balkontür. Worauf Anita sofort die Brüstung enterte,
um sich zu sonnen, Gustav ihr jedoch keinesfalls folgte. Unsicher und irgendwie
besorgt blickte er zu ihr hinauf. (Inzwischen weiß ich: Er pflegt
generell sorgfältig abzuwägen, was er tut – oder eben auch nicht. Bei solchen
Gelegenheiten hört man das kleine Katerhirn geradezu rattern …) Nach wenigen Tagen gab sich die Scheu und Gustav war -
wieder Freigänger. Der nach jeder Nacht auf Rautze am Morgen zurückkehrte. Mein Bauchgefühl
hatte also nicht getrogen, das Vertrauen sich gelohnt. Wie schön … auch diese Hürde war genommen.
Ende April 2018 wurde unsere gemeinsame Erfolgsgeschichte, die mich
jeden Tag mit Erstaunen und Dankbarkeit erfüllte, abrupt unterbrochen. Grund:
ein notwendiger Tierarztbesuch. Über den ich mehr als unglücklich war, wissend,
dass das Einfangen Gustavs durch mich in seinem neuen Refugium und "Verschleppen" zum Tierarzt einen ordentlichen Abbruch an Vertrauen zur Folge haben dürfte. Allein - seinem heillos
verfilztem Fell, einem wahren „Teppich“, der ihm selbst sichtlich zu schaffen
machte, war mit vorsichtigem Bürsten und Herausschneiden mittels Nagelschere
nicht beizukommen. Ein Profi musste ran. (Bei semi- und langem Fell muss
regelmäßig und fest gebürstet werden, erst recht, wenn das Winterfell
herausfusselt – etwas, das sich selbst domestizierte Katzen nicht immer
gefallen lassen.)
Tierarzttermin also und vorher Sedierung, weil anderenfalls
keine Chance, ihn in die Transportbox zu bekommen. Die gesamte Aktion für mich
Adrenalin pur, letztlich aber gemeistert. Bis zur Heimkehr. Kaum hatte ich die Transportbox geöffnet, sah ich von Gustav nur noch die Rücklichter. Ich hatte vergessen, die Katzenklappe zu schließen ... Nun war er auf und davon. Mit frisch operierten Zähnen und
Teilglatze auf dem Rücken. Shit happens.
Was nun? Ein Tag verging, zwei, drei … kein Gustav. Schon
klar. Vielleicht war er bereits auf dem Weg zurück in sein altes Revier bei Pirna. Welch ein dummer Fehler …
ich war todunglücklich und frustriert über meine Gedankenlosigkeit. Schaltete eine Suchanzeige bei TASSO, pflasterte meine
Siedlung mit Suchplakaten, fragte mich durch Straßen und Gartensparten, aber nichts. Kein einziger Hinweis. Vielleicht also hatte ich meinen großen Roten wieder verloren. Das Leben als Wildling war er
schließlich gewöhnt, draußen war Frühling und er zweifellos ein versierter Jäger.
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