Dienstag, 24. März 2020

Das Leben in den Zeiten von C.

Wenn ich morgens auf den Balkon hinaustrete, klingt plötzlich jeder Tag wie ein Sonntag. Kein Verkehrslärm, der von der nahe gelegenen Hauptstraße heranbrandet und nur selten das Geräusch von Straßenbahnen; die Taktzeiten sind verlängert worden. Eine Stille, die ich genieße. Doch ich weiß um ihre Kehrseite: unzählige Menschen, die gerade um ihre Existenz bangen oder harsche finanzielle Einbußen durch Kurzarbeit oder Jobverlust erleiden. 





Mir selbst hat C. meinen Wunschjob als kaufmännische Mitarbeiterin in einem Fairtrade-Handelsunternehmen, den ich nach erfolgreich absolviertem Gespräch und Probearbeit ab 1. April hätte beginnen können, geschreddert. April, April sozusagen. Und die Aussichten bis auf Weiteres unklar, da Belegschaft halbiert und Warenauslieferung auf Eis gelegt. Ob und wann sich die Firma von diesen umsatzlosen Wochen erholen und wieder Personal einstellen wird, steht derzeit in den Sternen. 

Verlasse ich meine vier Wände, fällt mir überall – auf den Straßen, den Fußwegen, in den Läden, die noch geöffnet haben - eine immense Entschleunigung auf. Nicht nur, dass extrem wenige Menschen per Auto oder zu Fuß unterwegs sind, nein, es scheint auch kaum einer von ihnen eilig zu haben. Gelassenes Schlendern allein, zu zweit, in Familie. Großer Frühjahrsputz in den Gärten, die Kiddies helfen stolz mit. Und all das mitten in der Woche. Ein Freund baut gerade seine Werkstatt aus und sein Sohn hilft ihm dabei, nachdem die vom Lehrer per E-Mail empfangenen Hausaufgaben erledigt sind. Die positive Seite des Ausnahmezustandes: viel Zeit füreinander.

Auch an der Elbe spazieren Leute entlang. Oder radeln. Oder sind per Inliner unterwegs. Wahrscheinlich käme man damit in Ermangelung des Straßenverkehrs inzwischen sogar unangefochten von meiner Siedlung bis zum Elberadweg - ca. 5 km Strecke und normalerweise vollkommen undenkbar.

Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich am ehesten beim Einkaufen. Die weiten Abstandslinien vor den Kassen. Die von der Decke hängenden Plexiglasscheiben, die Kassiererinnen von den Kunden trennen. Eine 15 m lange Schlange vor’m Drogeriemarkt, weil die Kunden den Mindestabstand von 1,5 m zwischen sich wahren. Neu auch die Security, die vor und in den Geschäften über die Einhaltung der Sicherheitsmaßnahmen wacht. Das strikt durchgesetzte Gebot bei Fressnapf, "Einkaufspaare" an der Tür zu trennen – aus Gründen der Risikominimierung für's Personal darf nur einer von beiden den Laden betreten.

Tja, und im Konsum tatsächlich weder Toilettenpapier noch Küchentücher erhältlich. Auf der ganzen Länge des Regals nur zwei 20er-Pakete Papiertaschentücher der teuersten Marke übrig. Gern würde ich die Hamsterer mal interviewen. Weshalb gerade Toipap und Küchentücher? Was tun sie damit? Was versprechen sie sich davon in den Notzeiten, die sie offenbar erwarten? Oder haben sie allesamt vor lauter Panik Dünnpfiff und deshalb höheren Bedarf an Hygieneartikeln? Fragen über Fragen… Außer Frage steht, dass es sich bei ihnen um ausgemachte Egoisten handelt, denen am Rücken vorbeigeht, dass andere ihretwegen in die Röhre gucken. 

Ebenfalls seltsam: Menschen, die übertrieben riesige Bögen umeinander schlagen, wenn sie einander auf dem Fußweg begegnen. Verbunden mit Blicken, die warnen: Komm mir bloß nicht zu nahe... Das fühlt sich schon ziemlich ungemütlich an.

Naturgemäß bringen Ausnahmezustände wie dieser neben großer Solidarität untereinander immer auch hässliche Auswüchse hervor. Vornehmlich im Netz zu finden aus jener schützenden Anonymität heraus, die jeglichen Verbalschlag zu gestatten scheint. Personen, die jeden anfeinden, der dem strikten „stay@home“ nicht uneingeschränkt folgt. Nicht folgen kann oder will. Wir – zumindest hier in Sachsen – haben jedoch keine Ausgangssperre. Es  i s t  gestattet, einkaufen zu gehen, sich um Familienmitglieder zu kümmern, im Freien Sport zu treiben, arbeiten zu gehen, sofern der Arbeitgeber nicht Home Office angeordnet hat. Die ewig Selbstgerechten, denen es wie Öl runtergeht, wenn sie Feindbilder erschaffen und sich selbst als die besseren Menschen gerieren können, kümmert dies wenig. Hoch-Zeit leider auch für Denunzianten: „ … auf der xyz-Straße waren neulich nachts junge Leute unterwegs … dort sollte das Ordnungsamt sofort nächtliche Kontrollen anordnen und schärfste Strafen aussprechen.“ Ich möchte hier gern rufen: Kusch, Rex! Und hätte neulich auch gern die blutjunge Apothekerin kräftig durchgeschüttelt, als sie der alten Dame mit Rollator, die ihr Rezept einlöste, im Befehlston mitgab, künftig doch besser daheim zu bleiben.

Überhaupt die alten Leute. Sie sind’s, die ich am meisten bedauere. Weil vielen von ihnen gegenwärtig die wenigen vertrauten Sozialkontakte, die sie so sehr brauchen, wegbrechen. Schlimmer noch: ein Ende nicht absehbar ist. Und manche von ihnen noch nicht einmal verstehen können, was gerade passiert. Zum Beispiel jene mit Demenz oder nicht mehr so ganz von dieser Welt, die im Heim von ihren Angehörigen nicht mehr besucht werden können. Und verwirrt sind darüber. Wie heute erlebt. Das hat mich traurig und nachdenklich gemacht.

Inzwischen ist es längst später Abend und die Stille rings um meine Siedlung noch tiefer. Kein Motorenlärm, weder zu Lande noch in der Luft. Wüsste man nicht um die Situation da draußen, fühlte es sich an wie vollkommener Frieden.

***

Als Sachinfo hier noch die aktuellen Zahlen Sachsen und Dresden von heute, 24. März 2020:

Der erste C.-Fall wurde am 2. März 2020 registriert.
Sachsen: 1.018 positiv auf SARS CoV-2 getestete Personen, 6 Todesfälle
Dresden: 169 positiv auf SARS CoV-2 getestete Personen, 2 Todesfälle

Einwohnerzahl Sachsen (2018): 4.081.000
Einwohnerzahl Dresden (2019):    563.011

Wenn meine Rechnung stimmt, sind das für Sachsen gegenwärtig 0,025% positiv getestete Personen und für Dresden 0,030% positiv getestete Personen. Die Dunkelziffer dürfte selbstredend weit höher liegen, da bisher nur vergleichsweise wenig Personen getestet wurden.

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