Sonntag, 15. März 2020

Rückblick in den Abgrund

Diese Schilderung, wie sich eine Depression „von innen“ anfühlt, war nie als Blogbeitrag vorgesehen, weil zu persönlich. Ich habe sie im vergangenen Jahr verfasst, in dem Versuch, einem Außenstehenden zu erklären, warum „zusammenreißen“ nicht funktioniert, wenn man mitten in einer depressiven Episode steckt, obwohl man sich nichts sehnlicher wünscht, als genau dafür die Kraft - den Biss - zu haben.

Den Ausschlag dafür, den Text nun doch zu veröffentlichen, gab ein Facebook-Post, mit dem via Crowdfunding für ein Buchprojekt unter dem Namen „Nicht gesellschaftsfähig“ gesammelt wird.  Crowdfunding #nichtgesellschaftsfähig Und der mir klargemacht hat, dass es da draußen immer noch viele gibt, die das Abtauchen in eine Depression für eine Art Charakterschwäche verbunden mit mangelnder Disziplin halten.




Depression ist, wenn:

- du morgens aufwachst und dich augenblicklich gehetzt und unter Druck fühlst in dem Wissen, deine Welt auch heute wieder nicht retten zu können - jeder neue Tag schon am Morgen verloren scheint. Wenn du am liebsten im Bett bleiben möchtest, um dich vor dem Tag, den du nicht willst, zu verkriechen

- du nur aus dem Haus gehst, wenn es absolut unvermeidbar ist. Weil gähnende Leere im Kühlschrank herrscht oder das Katzenfutter zur Neige gegangen

- du stundenlang darüber nachdenkst, ob du jemanden anrufen solltest und es letztlich verwirfst, weil du dich deiner Schwäche, deines peinlichen mentalen Zustands schämst und damit niemanden belästigen willst

- du dich erschöpft bis auf die Knochen fühlst und dir selbst die kleinste Tätigkeit Mühe bereitet und sogar bereits das Darüber-Nachdenken. Wenn dir die winzigsten daily tasks als unbezwingbares Gebirge erscheinen

- du erst zum Gießen in den Garten gehst, wenn du sicher sein kannst, dass deine Gartennachbarn schon beim Abendessen daheim sitzen, weil du niemandem begegnen willst

- du so dünnhäutig bist, dass dich schon das kleinste Missgeschick im Handumdrehen so aus der Bahn wirft, dass du schreien und toben möchtest, obwohl du dir vorgenommen hattest, dich heute zusammenzureißen und diesen Tag durchzuziehen

- dir nichts mehr einfällt, was dir Freude bereiten könnte

- du denkst: Was soll das alles noch? Aber immerhin sind deine Katzen auf dich angewiesen

- du dich selbst verletzen möchtest, weil du dich verachtest und für deine unwürdige Verfassung bestrafen willst. Oder ein Ventil brauchst – eine Empfindung, in diesem Falle Schmerz -, die dich für kurze Zeit von deiner Verzweiflung ablenkt

- dein Vertrauen in die Zukunft, deine Zuversicht weit im Minusbereich liegen in dem sicheren Wissen, dass es einige negative Dinge gibt, die sich mit großer Sicherheit ereignen werden, wohingegen das Eintreten positiver Ereignisse bestenfalls 50:50 beträgt

- deine negativen Gedankenspiralen dir jegliche Kraft rauben

- du das Gefühl hast, dich in Deinem Leben ausweglos verrannt zu haben und nichts je wieder in Ordnung kommen wird

- dir beim kleinsten Anlass eine Angstfaust in den Bauch fährt, die dich kaum noch atmen lässt

- du in nichts mehr Sinn findest, dir bei allem Tun zuallererst das Wörtlein „sinnlos“ einfällt, du das Leben als sinnlosen Kreislauf empfindest

- du nur isst, weil Dein Körper sonst mit Kopf-, Bauchschmerzen oder Übelkeit reagiert

- dir absolut alles ein „Muss“ bedeutet

- du dich auf der Straße am liebsten dem nächstbesten Fremden in die Arme werfen möchtest und rufen: Bitte hilf mir. Bitte rette mich. Wissend, dass  niemand dich retten kann außer du dich selbst


PS. All dies konnte ich heute kühlen Blutes lesen, überarbeiten. Es wühlt mich nicht mehr auf, da ich sicher bin, meine Depression gehört endgültig der Vergangenheit an. Vielleicht, weil mir mein Leben 2019 so viele Tiefschläge in so kurzer Folge präsentiert hat, die ich alle gemeistert habe, dass mein Kopf beschlossen hat, felsenfest daran zu glauben: Es geht immer weiter. Es wird, wenn die dunklen Wolken vorbeigezogen sind, wieder richtig gute Tage geben. Voller Glücksgefühle und überschäumender Fröhlichkeit. Und weil ich mich inzwischen stärker fühle denn je. Stark genug, allen unerbetenen "Überraschungen" die Stirn bieten zu können und daran zu wachsen. Mechanismen gefunden habe, mit Ungemach besser - gelassener - umzugehen.

Im übrigen spiegelt meine Schilderung nur wider, was ich empfunden habe; ich halte sie nicht für allgemeingültig. Und bin mir darüber im Klaren, Außenstehenden das Krankheitsbild Depression wahrscheinlich auch mit noch so eindringlichen Worten nicht erfassbar machen zu können: Wer’s nicht kennt, dem entzieht sich – glücklicherweise! – das vollständige Begreifen dieser dunklen mentalen Verfassung, im Englischen auch „schwarzer Hund“ genannt.


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