Sonntag, 26. April 2020

Gustav: vom Katzenwildling zum Kuschelfreak/3. und letzter Teil


Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja … bei den nächtlichen Besuchern auf meinem Balkon und den spannenden Schwarz-weiß-Filmen, die mir die Außenkamera zu nachtschlafener Zeit aufs Handy schickte. Die Anlass zur Hoffnung boten, dass ich meinen Wildling mit meinem 3-Stufen-Plan wieder in die Wohnung locken könnte.




Und was soll ich sagen? Mein Plan funktionierte! Bereits nach wenigen Tagen ging ich dazu über, den Napf mit dem lecker duftenden Futter – gekochtes Hühnchen - anstatt auf dem Balkon in meiner Küche zu platzieren, dicht hinter der geöffneten Katzenklappe, die ich mit einem langen Bambusstöckchen aufgestellt hatte. Die Außenkamera erhielt ihren neuen Platz auf dem Küchentisch und schreckte mich mit ihrem Signal kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf. Ich rieb mir die Augen: Gustav saß bereits in der Küche und schlug sich den Bauch voll! Beobachtet von Anita, die sich kein bisschen zu wundern schien, dass er wieder im Lande war. Ich aber tat keinen Mucks, hielt fast die Luft an. Wollte ihn in der Sicherheit wiegen, unentdeckt geblieben zu sein, um Stufe 3 meines Plans nicht zu gefährden. 

Und so ließ ich ihn einige Nächte ein und aus spazieren, schaute manchmal nachts Live-Kino oder morgens die Standbilder der vergangenen Nacht an: Gusti am Futtern, Gusti begrüßt durch meine Püppimaus, Gusti beim Putzen.
Dann – fiese Sache, ich geb’s ja zu – die erste Nacht mit dem kurzen Bambusstöckchen. Beim Hindurchschlüpfen durch die Katzenklappe würde er es berühren, es fiele zu Boden und meinem großen Roten wäre der Rückweg versperrt. Aber denkste, Puppe. In der ersten Nacht tat sich gar nichts. Hatte Gustav Lunte gerochen? Oder diesmal in den Gärten fette Beute gemacht? Ok, fassen wir uns in Geduld …

In der zweiten Nacht wurde ich durch laute Geräusche unsanft geweckt. Gusti hatte seinen Rückzug abgeschnitten gefunden und kämpfte wütend mit der Katzenklappe, um wieder ins Freie zu gelangen. Tja, mein Süßer … jetzt hab ich dich! Als ich die Küche betrat, sehr vorsichtig und langsam, um ihn nicht noch mehr zu verschrecken, saß er unter’m Tisch. Unglücklich – klar. Aber es half nichts, in den kommenden Tagen würde er den Hauskater geben müssen. Als ich ihn aus der Nähe betrachtete, war ich erstaunt, wie proper er aussah. Gepflegt, nicht abgemagert, die „Rückenglatze“ vollständig zugewachsen.

Erstaunlich schnell und gar nicht, als wäre er zwei ganze Monate fortgewesen, fügte er sich wieder ins „Familienleben“ ein. Und durfte deshalb nach wenig mehr als einer Woche seine Kontrollgänge im Außenrevier wieder aufnehmen. Um nach jeder Nacht zurückzukommen und tagsüber indoor zu faulenzen. Lieber ein warmes Stübchen als kühles, nasses Herbstwetter …

Die Zeit von Gustavs Rückkehr im September 2018 bis heute – April 2020 - ist vergleichsweise schnell erzählt. Bald durfte ich ihn vorsichtig streicheln, wenn auch vorerst nur die Stirn zwischen den Ohren. Er mochte es, konnte es aber noch nicht so recht zugeben. Die ungewohnte Berührung durch einen Menschen … Nach meiner sich langsam nähernden Hand jedoch schlug er längst nicht mehr, sondern erhob nur warnend die Pfote, wenn nicht in Laune. Ab wann ich ihm schließlich seine dicken, plüschigen Katerbacken kraulen durfte (etwas, das ich mir gewünscht hatte, seit ich ihm zum allerersten Mal im Tierheim begegnet war), könnte ich heute gar nicht mehr sagen, aber anschließend ging es Schlag auf Schlag. Heute ist Gustav sofort am Start, wenn es Streicheleinheiten gibt und legt sich so nahe wie möglich zu mir, anfangs bäuchlings, später bequem auf die Seite. Ein echter Vertrauensbeweis, ist’s doch für ihn eine recht ungeschützte Position. Inzwischen darf ich ihn rundherum streicheln, wenn auch Bauch und Pfoten nur ausnahmsweise. Beide Regionen sind für Katzen generell sensible Bereiche und sie reagieren darauf oft selbst dann kratzbürstig, wenn nicht wild aufgewachsen. Sogar unter den Händen eingeschlafen ist er mir schon - unglaublich. Und ich darf ihm die Nase ins Fell stecken, auch nicht selbstverständlich. Sogar auf seinen Namen hört mein großer Roter. Ob drinnen oder draußen - Gusti kommt auf Zuruf. 

Im Sommer 2019 dann - woooow! - das erste Schnurren tief aus dem Gusti-Bauch. Probeweise zuerst, dann aber lautstark und nicht mehr zu bremsen. So’n großer Kater hat schließlich einen ordentlichen Resonanzraum!

Selbst der Tierarztbesuch Ende August 2019 – wieder mal Filz im Fell, weil er sich seinen Plüsch nicht bürsten lässt – tat unserer Freundschaft keinen Abbruch. So wenig wie die Woche – halb freiwilliger - Hausarrest mit täglicher Infrarotbestrahlung, nachdem er sich einen ordentlichen Schnupfen eingefangen hatte. Es schien sogar, als ob er verstünde, dass ich ihn gesundpflegen möchte.

Gustav ist nun also ganz und gar bei uns zu Hause und schätzt seinen geborgenen Rückzugsort unübersehbar. Ein weiteres Zeichen, dass er sein Zuhause ganz und gar angenommen hat: Er markiert durch Reiben des Köpfchens am Türrahmen sein Revier. (Für Nicht-Katzenmenschen: In der Katzenwange sitzen Duftdrüsen, wir Menschen jedoch riechen diese Duftmarken keinesfalls.) Besuch indessen liebt er nicht und wird sich vielleicht auch in Zukunft keinem zweiten Menschen so eng anschließen wie mir. Dennoch ist sein großes Misstrauen gegenüber Menschen angemessener Vorsicht gewichen. Er geht heute zuweilen auch tagsüber in den Gärten spazieren oder sonnt sich auf der Balkonbrüstung, während meine Nachbarn in Reichweite vorbeilaufen.

Vom Naturell her ist Gusti ein sanftes Sensibelchen; in liebevoller Umgebung aufgewachsen, wäre aus ihm zweifellos ein riesiger (im wahrsten Sinne des Wortes) Schmuser geworden. Sensibel meint, dass er sich bei Veränderungen merklich zurückzieht. Sei es nun, dass die Kuschelzeit zu knapp ausgefallen ist, seine Katzengefährtin Anita krank oder sich unsere Tagesroutine verändert hat. Dann neigt er zum Schmollen bzw. entfleucht schon mal für lange Nächte ins Außenrevier. Was gar nicht geht: ein Anschiss! In all der Zeit hab ich ihn ein einziges Mal angezischt, weil nicht amüsiert über eine Kratzspur auf dem Handrücken. Das Resultat: Er zog es vor, den Rest des Tages unter’m Bett zu logieren und es brauchte ordentlich Überredungskunst und Schmeichelei, ihn wieder zu versöhnen.

Sein Sozialverhalten ist vorbildlich – Anita mit ihren angestammten älteren Rechten akzeptiert er nicht nur, sondern stellt sich im Falle eines Falles auch mal „hinten an“. Dominantes oder aggressives Verhalten habe ich nie beobachtet. Und klug ist er, wägt Risiken genau ab, ehe er sich entschließt, so oder anders zu reagieren. Was in zehn Jahren Freiheit zweifellos so etwas wie eine Überlebensgarantie gewesen sein dürfte. Was er nicht ist: unberechenbar. Er zeigt sehr genau, was er gerade mag und was nicht. Versteht man die Körpersprache von Katzen und reagiert auf entsprechende Signale, ist die Gefahr, sich eine Kralle einzufangen, nahe Null.

Vielleicht fragt sich nun der eine oder andere von Euch: Weshalb dieser Aufwand? Nur für ein Tier? Das kann man doch einfacher haben? Klar. Kann man.

Warum habe ich mich dennoch im Herbst 2017 dazu entschlossen, Gustav zu adoptieren? Zuallererst: Der rote Riese hatte mir imponiert. Mit seiner Statur, seinem Plüschfell, den Knickohren, seiner roten Clownsnase. Seiner Gelassenheit inmitten des trubeligen Treibens im Freigehege. Seiner wilden, kargen, kämpferischen Vergangenheit. Auch neige ich zum „Retten“. Klar war, dass Gusti irgendwann wieder ausgewildert werden würde, so sich kein Zuhause für ihn fände, da er nicht lebenslang eingesperrt bleiben sollte. Zudem scheue ich schwierige Aufgabenstellungen selten – ganz im Gegenteil: sie reizen mich. Weil ich daran wachsen kann, Neues erfahren, lernen. Generell traute ich mir als jahrzehntelange „Katzenfrau“ das Gusti-Projekt mit all seinen Unwägbarkeiten durchaus zu.

Nach 2 1/2 Jahren weiß ich längst - trotz aller Zitterpartien mit ungewissem Ausgang in 2018 und obwohl jeder Tierarztbesuch auch künftig einen Adrenalinschub bedeuten wird: Alles richtig gemacht, die richtige Entscheidung getroffen. Weil ich die Erfahrung, einem ehemals wilden Tier ein Zuhause geschenkt zu haben, nicht missen möchte. Das Glücksgefühl, das sich einstellt, wenn es gelingt, Schrittchen für Schrittchen  Vertrauen aufzubauen. Gelernt habe ich durch Gustav vieles: Geduld und langen Atem, sprich: die Dinge sich entwickeln lassen, ohne etwas zu forcieren. Loslassen und Vertrauen ohne garantierte Sicherheiten. Respekt vor seinem Naturell, seinem ureigenen Tempo. Jeder noch so kleine Fortschritt hat mich mit Dankbarkeit erfüllt und oft auch mit Staunen darüber, was möglich ist. Eine Erfahrung, die man mit einem Schoßkätzchen so nicht machen wird.

Hier nun noch einige Katzentipps:

  • Für alle, die es nicht wissen sollten: Keine Katze wird als Kuscheltier geboren. (So wenig übrigens wie andere Tierbabies … jedem von ihnen ist der Mensch vorerst ein fremdes Wesen.) Dennoch erwarten viele – wie während meiner Tierheimbesuche ein ums andere Mal erlebt -, eine bis dato fremde Katze müsse sich sofort anschmiegen, ankuscheln. Das mag es geben, vorauszusetzen ist es nicht. So wenig, wie einander fremde Menschen binnen fünf Minuten enge Freundschaft miteinander schließen werden.
  • Jede Katze ist ein Individuum. Es gilt, ihren Charakter zu respektieren und ihre Körpersprache. Die Mär von Unberechenbarkeit/Falschheit hält sich leider noch immer – das jedoch sind unzulässige „Vermenschlichungen“. Reagiert eine Katze unfreundlich, so hat man vorher ihre Signale übersehen bzw.  ignoriert. Kaum eine Katze schlägt zu, ohne vorher gewarnt zu haben. Ausnahmen mag es bei Tieren mit wechselhafter, liebloser Vergangenheit geben. Ich selbst habe diese Erfahrung nie gemacht, selbst nicht bei Tieren, die vorher ausgesetzt worden waren.
  • Ebenfalls zu respektieren – das ureigene Tempo des Tieres und der Grad seiner Aufgeschlossenheit/Scheu. Katzen schätzen die vorsichtige Annäherung; so agieren sie auch untereinander. Am besten in die Hocke gehen, langsam eine Hand ausstrecken und sie mit der Nase deren Geruch aufnehmen lassen, ehe man sie streichelt.
  • Die beliebtesten und ungefährlichsten Streichelzonen: Stirn und Ohrenansatz. Bei fremden Katzen (nicht nur) oft heikel: hintere Rückenpartie, Schwanz, Pfoten, Bauch (!).  Kann man vorsichtig testen, wenn man die Körpersprache der Katzen kennt. Schwanz beobachten - seine Bewegung zeigt den Grad der Gelassenheit bzw. aufkommende Unruhe an. 
  • Lautstärke und hektische, schnelle Bewegungen treiben Katzen in die Flucht. Je ruhiger und entspannter ihr Umfeld, desto besser werden sie sich eingewöhnen. Nie in die Enge treiben; darauf reagieren sie panisch und mit Vertrauensverlust.
  • Wenn eine Katze faucht, heißt das nicht, sie ist aggressiv. Sondern: Sie hat Angst. 
  • Angelegte Ohren und peitschender Schwanz: Die Katze ist notfalls zum Angriff, zur Gegenwehr, bereit.
  • Last but not least: Zwinkern, zwinkern, zwinkern! Katzen zwinkern einander zu, um dem Artgenossen zu verstehen zu geben, dass sie ihm freundlich gesonnen sind. Funktioniert auch zwischen Menschen und Katzen. Anstarren hingegen ist Kräftemessen und wird als Drohung/Kampfansage verstanden.


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