Donnerstag, 5. März 2020

Alles nichts. Oder?

Eine meiner ersten Begegnungen mit bundesdeutscher Fernsehunterhaltung zur besten Einschaltzeit am Wochenende war wohl Hella von Sinnens „Alles Nichts Oder?!“. Ich erinnere mich noch heute an meine Verwunderung: Ist das Humor? Worum geht es überhaupt? Hugo Egon Balders Nummerngirls, drapiert mit Früchten , ließen mich ähnlich ratlos zurück, waren aber immerhin nett anzuschauen. Hm. Ok  … Klamauk in seiner reinsten Erscheinungsform wohl. Geschmäcker und Humor sind eben verschieden.

Inzwischen hat sich die Erde ordentlich gedreht und niveauvoller sind die Spiele für’s Volk nicht geworden. Im Gegenteil. 

Ich selbst besitze seit eineinhalb Jahrzehnten zwar keine Flimmerkiste mehr, weil ich den Inhalten wenig abgewinnen konnte (von der Werbung, die schon damals immer massiver aufs Auge knallte, ganz zu schweigen), ab und an jedoch komme ich im Internet an diversen TV-Rezensionen vorbei und werfe aus Neugier einen Blick hinein. Rezensionen von Formaten wie Germany’s Next Topmodel, Dschungelcamp, Bachelor(ette). Für mich definieren sie die Niederungen der Unterhaltungsbranche. 

Zu vermuten steht, dass diese und ähnliche Sendungen hohe Einschaltquoten erzielen, anderenfalls sie bereits eingestellt worden wären. Davon abgesehen, dass ich schwer nachvollziehen kann, was Menschen antreibt, die sich im TV auf diese Art und Weise bloßstellen lassen (oder einst einen Dirk Bach, Friede seiner Asche, das Dschungelcamp zu moderieren), stellen sich mir Fragen über Fragen, wenn ich die einschlägigen TV-Rezensionen lese.

Zum Beispiel jene: Wes Geistes Kind sind die Millionen von Zuschauern, die sich gern und regelmäßig auf diese Weise unterhalten lassen? Was sind das für Menschen, die sich daheim vor‘m Bildschirm daran delektieren, wie den Akteuren mitgespielt wird, welch abschätzige Kommentare, welch würdelose Behandlung ihnen zuteilwerden? Führen sie ein derart langweiliges Leben, sind sie derart frustriert, dass es ihnen wie Öl runtergeht, wenn andere verbal oder wie auch immer gedemütigt werden? Stellt diese Art der Unterhaltung für sie vielleicht so etwas wie ein Ventil dar, mittels dem sich aufgestauter Ärger und Unzufriedenheit aufs Schönste in Schadenfreude und Häme auflösen lassen? Und: Gewinnen sie Banalitäten absondernden Hochglanzfassaden auf Beinen wie z. B. Klums Heidi wirklich etwas ab? 

Roger Willemsen, den ich sehr geschätzt habe, nein, es noch immer tue, brachte 2015 in einer Talkrunde auf den Punkt, was er von ihrer Darbietung hält:

„Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernanten-Profil bringt kleine Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über ‚Persönlichkeit‘ redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft. Der Exzess der Nichtigkeit aber erreicht seinen Höhepunkt, wo Heidi Nationale mit Knallchargen-Pathos und einer Pause, in der man die Leere ihres Kopfes wabern hört, ihre gestrenge ‚Entscheidung‘ mitteilt und wertes von unwertem Leben scheidet. Da möchte man dann elegant und stilsicher, wie der Dichter sagt, sechs Sorten Scheiße aus ihr rausprügeln – wenn es bloß nicht so frauenfeindlich wäre.“

Mir fällt zu GNTM sofort eine Begebenheit ein, die mich nachdenklich gemacht hat und traurig auch: Vor vielen Jahren, als ich noch neu in meiner Siedlung war, wohnte nebenan ein fröhliches kleines Mädchen. Oft hab ich ihr vom Balkon aus zugeschaut, wie sie mit ihrem Bruder im Garten spielte, schaukelte, sich mit Decken im Baumhaus einrichtete. Eine unbeschwerte kleine Kinderwelt. Als ich sie zuletzt im Garten sah, auch das nun schon einige Jahre her und sie noch immer ein Kind, wenn auch schon ordentlich in die Höhe geschossen, spielte sie mit zwei Freundinnen GNTM nach. Unser Gartenweg der Laufsteg und all die Bemerkungen, wie man sich darauf zu bewegen hat, was richtig ist, was falsch, in Aussage und hochmütigem Tonfall offenbar Heidi Klum nachempfunden. Gefiel mir gar nicht.

Vor kurzem hab ich die Nachbarstochter wiedergesehen. Nun eine junge Frau. Und so dünn geworden, dass ich erschrocken bin. Das berühmte „Thigh Gap“ natürlich auch vorhanden. Ich kenne ich die Hintergründe ihrer drastischen Veränderung nicht, dennoch fiel mir sofort jene GNTM-Inszenierung im Garten ein.

Und damit komme ich zu meiner nächsten Frage: Sollten sich Massenmedien wie das Fernsehen nicht auch ihrer Verantwortung dafür stellen, welche Inhalte sie transportieren (und agressiv bewerben) respektive: welchen Einfluss sie damit auf die Zuschauer ausüben? Gerade auch auf die Jüngeren unter ihnen, bei denen zu erwarten steht, dass sie bunt, peppig und trendy Serviertes kaum in Frage stellen. Oder ist das sogar Kalkül? Eine Art Massenhypnose, die das Denken und Wollen von Menschen in hübsch triviale, oberflächliche Bahnen lenkt und als massive Ablenkung von allem, was im Staate Dänemarks falsch läuft, prächtig funktioniert?

Fühlen sich die für solche Formate Verantwortlichen eigentlich gut dabei, fleißig Pseudo-Werte zu verkaufen, die im schlimmsten Fall ein Leben aus der Bahn werfen können bzw. generell niedrigste Instinkte wie Voyeurismus, Schadenfreude & Co. aus der Gemeinde ihrer Zuschauer herauskitzeln? Oder beschweren sie ihr Gemüt gar nicht mit derlei Erwägungen? Weil sie einzig dem Grundsatz folgen: Der Zweck = maximalen Gewinn einzuspielen heiligt die Mittel? Wahrscheinlich ist dem so und neu ist's auch nicht: Kommt Geld ins Spiel, hat die Moral zu schweigen.

Apropos Moral und jüngere Fernsehkonsumenten: Welche Menschen mit welchen Charaktereigenschaften werden ihnen hier eigentlich in schöner Regelmäßigkeit als Vorbilder präsentiert? Professionelle Selbstdarsteller mit perfekter Fassade, zumeist mit einem Mundwerk versehen, das sich gewaschen hat und vor nur wenigem zurückschreckt, und vom Scheitel bis zur Sohle schwelgend in ihrer eigenen Bedeutsamkeit. Zusammengefasst könnte das bei jungen Leuten so landen: Sei schön und zu 100% von Dir überzeugt, überfahre andere mit Deinem Mundwerk und wirf alle moralischen Bedenken inklusive jeglicher Empathie über Bord. Lebe Deinen Egotrip! Dann wirst Du Deinen Weg schon machen.

Für mich steht fest: TV-Formate wie GNTM, Dschungelcamp, Bachelor(ette) – hinzuzufügen sicher noch eine Reihe anderer dieser Couleur - machen unsere Gesellschaft nicht besser, nicht menschlicher. Weil sie für falsche "Werte" und Prioritäten werben. Und damit grassierende Verdummung, Oberflächlichkeit und Empathielosigkeit fördern. Und nein - das ist nicht nur „nette Unterhaltung“ am Samstagabend. Das wirkt. Aber vielleicht ist es (s. o.) ja genauso gewollt.


3 Kommentare:

  1. Hallo Tina,
    in sehr interessanter Beitrag.
    Auch ich schaue schon seit vielen Jahren kein TV mehr (mit ganz wenigen Ausnahmen). Ich denke auch, dass das klassische Live-TV am sterben ist und in vielleicht 10 Jahren kaum mehr eine Rolle spielen wird.
    Grundsätzlich würde ich in das Geschehen aber nicht so viel hineininterpretieren. Für mich ist es so - die Fernsehsender liefern, was bestellt wird. Sicher sind die Fernsehsendungen zuerst da, aber der Zuschauer entscheidet. Man ließt ja schließlich auch oft, dass neue Sendungen nach nur wenigen Wochen wieder abgesetzt wurden, weil die Einschaltquoten nicht stimmen. Der Zuschauer bekommt also letztlich, was er verlangt und Fernsehsender sind auch nur Wirtschaftsunternehmen, bei denen es in erster Linie ums Geld verdienen geht, nicht um die Verbreitung moralischer Werte (Was sind eigentlich "richtige" und "falsche" Werte? Das beurteilt jeder sicher anders, dieses Thema allein könnte einen ganzen Abend füllen).
    Ich habe es auch erlebt, dass hochgebildete Akademiker sich solche Sendungen ansehen, einfach zur Zerstreuung, weil der Alltag genug tiefgründiges Denken erfordert. Moralisch fragwürdige Unterhaltung gibt es auch schon sehr lange, schließlich wurden im Kolosseum in Rom früher sogar Menschenleben zur Unterhaltung der Massen geopfert.

    Ich bin ja manchmal auch ein verträumter Optimist und so glaube ich, dass viele Menschen letztendlich zwischen Fiktion im Fernsehen und dem wahren Leben unterscheiden können und es insgesamt nicht so schlimm um die Gesellschaft steht. Und: Ich spiele in meiner Freizeit zur Zerstreuung Videospiele - da waren sicherlich auch einige inhaltlich fragwürdige Titel dabei...
    Ganz liebe Grüße aus dem hohen Norden :)

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    1. Lieber Daniel, danke für Deinen ausführlichen Kommentar. Sicher - geliefert wie bestellt. Die Frage ist, ob immer alles geliefert werden sollte, was bestellt wird. Oder ob die Henne oder das Ei zuerst da war. Ich sehe die Massenmedien schon in einer moralische Verpflichtung und finde, sie sollten dem aus meiner Sicht abnehmenden geistigen Niveau hierzulande und dem verbreiteten Niedergang von Werten, die die Gesellschaft zu einer menschlichen machen nicht Vorschub leisten bzw. sie triggern. Was, wenn nun morgen Gladiatorenkämpfe "bestellt" würden? (Ich wette sogar, dafür gäb's leider tatsächlich reichlich Interessenten.) Und ja - ein großer Teil der Zuschauer kann sicher einordnen, was er da konsumiert, auch in punkto Videospiele, und trennt Fiktion von Wirklichkeit. Alle sicher nicht, darunter - je nach geistigem Entwicklungsstand und sozialem Umfeld - Kinder und Jugendliche, die die Botschaften teilweise ungefiltert übernehmen.

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  2. Grad ist mir zum spannenden Thema "geliefert wie bestellt" noch eingefallen, dass es eine Theorie gibt, die besagt, dass in der Marktwirtschaft durch Werbung etc. zahlreiche Bedürfnisse von Verbrauchern, die jene vorher nicht hatten, ja noch nicht einmal auf die Idee gekommen wären, dies oder das unbedingt zu wollen, zu brauchen, erst künstlich geschaffen werden, um den Konsum anzukurbeln, sprich: mehr Gewinn zu erwirtschaften. Mir scheint diese Theorie stichhaltig. Fängt bei 10 Käsesorten in verschiedenen Geschmacksrichtungen an, die aus ehemals einer Sorte von Käse entstanden sind und hört bei Autos, die kaum noch manuelle Bedienung erfordern, auf.

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