Wann immer ich hinter’m Dresdner Hauptbahnhof den FlixBus
nach Warnemünde gesehen hab, dachte ich: Och, da möcht‘ ich auch mal
wieder hin… Und warum eigentlich alles auf den St.-Nimmerleins-Tag verschieben?
Also Rucksack gepackt und los!
Mit Warnemünde
verbinden mich höchst lebendige Erinnerungen: z. B. ein Ferienaustausch, als
ich noch in der Lehre war. Hab mit meinen Mädels von der
Prof.-Dr.-Zeigner-Schule und Jungs einer anderen Dresdner Schule zwei
quietschvergnügte Sommerwochen in einer Rostocker Schule verbracht. Die
Klassenzimmer einfach mit Feldbetten zu Schlafsälen umgewandelt – so war das
damals. Und jeden Tag großes HalliGalli auf der Bude - LedZeppelins „Whole
Lotta loves“ vom Kassettendeck laut mitgesungen, heimliche nächtliche Besuche
von Tür zu Tür, der pure Überschwang. Als Betreuer reisten zwei Lehrer mit, die
unsere Meute mit gelassener Autorität in Schach hielten. Keine Spielverderber.
Wir haben Rostock erkundet, auf der Einkaufsmeile Kröpeliner Straße vom
Taschengeld bunten Krimskrams erstanden, aber absoluter Höhepunkt waren unsere
Ausflüge nach Warnemünde. Nur ein halbes Stündchen per S-Bahn durch die
Rostocker Neubaugebiete Lütten Klein, Groß Klein und wie sie alle heißen mit
ihren bunt bemalten Fassaden und schon waren wir am Strand. Baden, in der Sonne
brutzeln, Sandburgen bauen, uns gegenseitig bis zur Halskrause eingraben. Auf
der Strandpromenade Eis schlecken und Matrosen gucken (und anschmachten). Disko
im Teepott und in der Kellerbar des Neptun-Hotels, wo wir unter Diskokugel und
bunten Spotlights getanzt haben bis zum Umfallen. Jede Menge Spaß vom Frühstück
bis zur späten Nachtruhe. Ist das wirklich schon 41 Jahre her?
Später Sommerurlaube mit meiner besten Freundin Susi am
Alten Strom, wo die Warnow gemächlich in die Ostsee fließt. Ein kuschliges
Miniquartier, heut in der Saison sicher unbezahlbar. Im Hotel Atlantik gleich
nebenan Sekt mit Ananas getrunken, bis wir beide beschwipst waren. Einmal trotz
sich ankündigender Magen-Darm-Grippe – eine hundsgemeine Kombination, an die
ich mich noch gut erinnere. Und natürlich Disko im Teepott und die Matrosen in
ihrer schnieken blau-weißen Kluft unsere Helden. Unbeschwerte Sommermärchen
voller Lebensfreude und Übermut, aber Sommer und Jugend dürften sowieso ein
unschlagbares Doppel sein.
Ein halbes Leben später steige ich nach sechseinhalb
Stunden entspannter Busfahrt als einziger Nonstop-Passagier von Dresden nach
Warnemünde (die anderen sind in Berlin aus- oder aber erst zugestiegen) an der Warnow-Werft
aus. Wiedererkennungsfaktor erst einmal gleich Null. Ringsum Neubauwürfel,
Einkaufscenter, Firmen. Irgendwie hatte ich das Städtchen kuschliger in
Erinnerung… Ich befrage Google Maps nach dem Weg zu meinem Quartier in der
Innenstadt und marschiere los. Nach zweimaligem Irrweg – das Orientierungsgen
war bei meiner Geburt schon vergriffen - entlang an betagten Häuserzeilen, die damals
definitiv nicht zu unserem Einzugsbereich gehörten, weil zu weit entfernt von
Strand und Meer und Trubel, erreiche ich die Gässchen im Zentrum und langsam
setzt die Erinnerung ein. Malerische Häuschen mit spitzen Giebeln, viele davon mit maritimem Schmuck in Fenstern und Türen. Mitten im
Herzen Warnemündes die schöne Backsteinkirche. Rund um den Kirchplatz gibt’s
alles, was Einheimische und Touris brauchen: Einkaufsmarkt, Bäckerei, Sparkasse,
ein gemütliches Café, das ich mir sofort vormerke, Läden aller Art. Werde ich
mir später alles noch genauer anschauen. Jetzt gilt es erst einmal, den
Schlüssel für meine Bleibe abzuholen. Nach einem herzlichen Willkommen und einer
kleinen Plauderei bin ich zehn Minuten später am Haus „Seestern“ und freue mich
über ein großzügiges, liebevoll eingerichtetes Apartment. Überhaupt habe ich
das ganze Haus für mich allein. Genial.
Kurz darauf bin ich schon wieder auf Tour. Google Maps oder
Stadtplan diesmal verzichtbar - alle Gässchen nach Norden führen zum Strand,
alle nach Osten zum Alten Strom. Verlaufen nahezu unmöglich. Ich schlage die
Richtung zum Alten Strom ein, um auf altvertrauten Pfaden zu wandeln. Und da
ist es auch schon, unser ehemaliges Urlaubsrevier: die malerische Häuserzeile, die entlang der Warnow zu Leuchtturm und Teepott,
den Wahrzeichen Warnemündes, führt. War der Alte Strom früher schon Anziehungspunkt
für alle Feriengäste, so ist er heut die Flanier- und Shoppingmeile schlechthin
mit seinen vielen Lädchen und Gaststätten. (Unter ihnen der vielleicht kleinste
McDonalds Deutschlands – kann weg, würde ich sagen.) Auf der Warnow ankern neben
Ausflugsschiffen schwimmende Restaurants. Unser Quartier kann ich nach all der
Zeit nicht mehr identifizieren, aber - das
altehrwürdige Hotel Atlantik, Ort unzähliger Cocktails und Flirts steht noch. Yippieh!
Vorbei an Leuchtturm und Teepott schlendere ich gemächlich
zur Mole und freue mich über die Ruhe, die Warnemünde im Januar ausstrahlt. Vergleichsweise wenige Menschen sind unterwegs. Im Vorbeigehen höre
ich meinen Heimatdialekt - wo wären sie nicht anzutreffen, die reiselustigen Sachsen?
Das kleine Bilderbuchstädtchen am Meer atmet sicher auf in diesen Monaten
zwischen Saisonende und –beginn. Zwar lebt es von Touristen, doch wenn ab April
die großen Kreuzfahrtschiffe ankommen, dürfte es selbst für die tourismuserprobten Einheimischen des Guten ein bisschen zuviel sein. Erzählt
wird, dass während der Saison an manchem Wochentag vier Kreuzfahrtschiffe nacheinander
anlanden. Mit jeweils ca. 4.000 Menschen an Bord! Macht 16.000 Leute, die
binnen Stunden die kleine Stadt überfluten. Zusätzlich zu den bereits
vorhandenen Touristen. Für mich weit entfernt von dem, was ich mir unter Urlaub
vorstelle. Laut Google hat Warnemünde ca. 6.000 Einwohner, d. h. alle
Warnemünder würden auf 1 ½ Kreuzfahrtschiffe passen. Und sind vorübergehend
Gastgeber für fast das Dreifache ihrer Einwohnerzahl. Da braucht man sicher Nerven …
die die Nordlichter vielleicht auch haben. Wann immer ich an der Küste bin, scheinen
mir die Leute dort jedenfalls sehr geerdet und gelassen. (Ausnahmen bestätigen
die Regel, aber dazu später.) Für 2020 sind ca. 200 Kreuzfahrttermine
angekündigt, hat mir Google grad noch verraten.
Ich entere die Mole und laufe bis ganz ans Ende, wo der
grün-weiße Leuchtturm, genannt Westmolenfeuer, sein Licht übers Wasser schickt. An mir vorbei fahren große Schiffe aufs heut
recht ruhige Meer hinaus. Weit draußen am Horizont ankern große Pötte,
Fischtrawler vielleicht. Jetzt noch ein Abstecher zum Strand, dann ist es Zeit
für einen Cappuccino. Durch die Gässchen geht's zurück zum
Kirchplatz, vorbei an all den kleinen Souvenir-, Schmuck- und Modeläden. In den
Schaufenstern kaum Touri-Nepp, dafür küstentypische Mitbringsel,
handgefertigter Schmuck und hübsche Fummel für jeden Geldbeutel. Guido’s Coffeebar
– jenes Café, das ich gleich nach meiner Ankunft ins Auge gefasst hatte – entpuppt sich innen wie außen als gemütliches Plätzchen und erinnert mich mit
seinem Flair an die Dresdner Neustadt. Wäre ich Warnemünderin, wär’s wohl mein
Stammcafé, auch ob der überaus freundlichen Mädels, die dort bedienen.
Inzwischen kündigt sich der Abend an. Ich kehre kurz ins
Quartier zurück und freue mich auf mein persönliches Highlight, ein Muss, wann
immer ich am Meer bin: in der Dunkelheit am Strand zu sitzen, dem Meer zu
lauschen und diesen ganz besonderen Zauber bei einem Schluck Rotwein zu genießen.
Gesagt, getan. Wenig später sitze ich an den Dünen, ringsum Stille bis auf das sachte
Anrollen der Wellen. Die Leuchttürme schicken ihre Strahlen über’s Wasser, ein Schiff
fährt an der Mole vorbei und in der Ferne funkeln die Lichter der großen Pötte.
Ich schwelge im Moment… Plötzlich durchfährt mich ein Schreck - es ist noch
jemand am Strand unterwegs und zwar ganz in der Nähe. Da ich kaum die Hand vor
Augen sehe, ahne ich nur eine Silhouette. Und nehme lieber den nächsten Aufgang
zur Strandpromenade, weil ich die Lage nicht einschätzen kann. Später denke
ich, dass die Angst unnötig war - Warnemünde wirkt auf mich auch bei Nacht friedlich
und sicher.
Ich laufe auf der Strandpromenade bis zum Neptun Hotel und
voilà! – da ist schon die Leuchtschrift der Diskothek. Die gibt’s also wirklich noch!
Wie schön, dass manche Dinge bleiben, besonders dann, wenn sich Erinnerungen daran
knüpfen. Ich rechne im Kopf zurück und kann einfach nicht glauben, dass die dort
durchtanzten Nächte schon sooo lang zurückliegen sollen. Gleich fällt mir auch
der Sommerhit 1979 ein - Racey „Some girls“. Zurück am Teepott, setze ich mich für eine Zigarettenlänge an die nächtliche Mole, um dann Rückweg zum Quartier einzuschlagen. Alle Gassen nun nahezu menschenleer. Gute Nacht, Warnemünde, bis morgen …
Auch der zweite Tag gehört mir nur zur Hälfte; am frühen
Nachmittag fährt mein Bus zurück nach Dresden. Was hab ich heute vor? Strandspaziergang,
Möwen füttern, Abschied vom Städtchen nehmen, Verpflegung für die Rückfahrt
fassen.
Mein erster Weg führt mich zum kleinen Discounter am
Kirchplatz, um Möwenbrötchen zu kaufen. Dann stracks nach Norden zum Strand, vorbei am Kurpark.
Tatsächlich campt dort jemand unter einem Strauch im Zelt … hm. Ist es auch recht
frühlingshaft hier an der Küste, warm ist es nicht. Auch hat der Wind
aufgefrischt. Mitten im Kurpark entdecke ich die „Bücherbüxe“. Was ehemals eine Litfaßsäule gewesen sein muss, ist jetzt ein Bücherregal zum Ausleihen,
Mitnehmen, Dalassen eigener Bücher. Ich freu mich über die tolle Idee, stöbere
ein bisschen und finde einen Roman für die Rückfahrt.
Am Strand angelangt, packe ich das Möwenfrühstück aus. Es
dauert nicht lange und schon tummelt sich das weiße Geschwader über mir in der Luft.
Diese Flugkünstler erwischen jeden Brocken noch im Flug; die mutigsten von
ihnen schnappen sie mir aus der Hand. Drei Raben gehen leider leer aus, trauen
sich nicht in die Übermacht der kühnen Flieger hinein. Ich hab Riesenspaß an den kühnen Manövern der Vögel und freue mich überhaupt wie Bolle. So'n Kindervergnügen! Anschließend laufe ich am Strand entlang, sammele die winzigen Ostseemuscheln
und beobachte die Schiffe weit draußen. Das Meer präsentiert sich heut mit
deutlich höheren Wellen und Schaumkronen. Nun noch Abschied vom Alten Strom nehmen und schon ist es Zeit, den Rucksack für die Heimreise zu packen.
Auf dem Weg zur Bushaltestelle Am Strand stelle ich fest, Warnemünde
ist unübersehbar gewachsen. Hier am anderen Ende des Städtchens, abseits der
Touristenpfade, ist ein Neubaugebiet entstanden. An der FlixBus-Abfahrtstafel vergleiche ich
die Uhrzeiten: Oh Mann, ich bin eine ganze Stunde zu früh dran! Das Reisefieber muss mir einen Streich gespielt haben. Was jetzt? Die Entscheidung
fällt leicht - gleich gegenüber hinter dem Wäldchen liegt der Strand. Ich setze
mich an die Dünen, lass mir die frische Brise um die Nase wehen und denke: eigentlich
schön, dieser Abschied so ganz ohne Hast. Lasse die vergangenen zwei
Tage noch einmal Revue passieren. Welch ein perfekter Kurzurlaub und wie sehr
habe ich diese kleine Auszeit gebraucht. Wie ein tiefes Durchatmen.
Drei hungrige Raben stolzieren vor mir durch den Sand.
Gerade teile ich mein Studentenfutter mit ihnen - da steht wie aus dem Boden
gewachsen der junge Surfer neben mir, dessen professionelle Manöver auf dem
Wasser ich grad noch bewundert habe. Und hält mir ansatzlos in scharfem Tonfall
eine Standpauke, dass es streng verboten sei, Möwen zu füttern. Strafe 8.000 €!
Ich teile ihm mit, dass ich – wie er sehen kann – Raben füttere. Möwen verschmähen
Studentenfutter; sie kommen auch nicht näher. Er beginnt seinen Vortrag von
vorn: Es ist verboten, Möwen zu füttern! Nun schon sichtlich erregter. Ich
erkläre ihm nochmals den Sachverhalt. Ein drittes Mal setzt er an und ein
drittes Mal antworte ich. Allein – es hilft nicht. Er wirft mir eine derbe
Beleidigung an den Kopf, empfiehlt mir, den Strand jetzt zu verlassen, dreht
sich um und geht. Öhm, hallo? Was bitte war das jetzt? Ich fühle mich, als hätte
jemand einen Kübel Schmutzwasser über mir ausgegossen. Der Zauber meines
Kurzurlaubs geschreddert in Nullkommanichts. Welch ein unglaublich dummer
Ausklang!
Diese Begegnung der anderen Art zu verdauen, kostet mich ein
ordentliches Stück der Rückfahrt. Bis Berlin hab
ich’s dann so lala verknust. Schade, diesen Schatten auf meinen zwei wundervollen Tagen am Meer hätte ich nicht gebraucht. Und fest steht: Ich habe nirgendwo am
Strand Schilder gesehen, die mich auf das Verbot, Möwen zu füttern, hingewiesen hätten. Nicht ein einziges.
(Zurück in Dresden habe ich kurz überlegt, eine Mail an die Rostocker Stadtverwaltung zu schreiben, aber wozu dieses Erlebnis noch mal auffrischen.)
Was bleibt, ist dennoch ein wunderschönes
Wiedersehen mit meiner alten Liebe Warnemünde, die immer wieder eine Reise wert ist. Für mich: bevorzugt außerhalb der Saison. Alles immer noch
klein und fein und die Einheimischen entspannt und gastfreundlich.
Manches hat sich über die Jahrzehnte verändert - der Tourismus fordert seinen
Tribut - aber das besondere Flair der kleinen Stadt am Alten Strom ist glücklicher Weise erhalten
geblieben. Einfach ein malerisches Fleckchen Erde. Aber denkt daran: bitte niemals
nicht Möwen füttern! Auch nicht die schwarzen! ;)
PS. Ich hab mal zum Fütterungsverbot recherchiert: Nicht
zuletzt die Veränderung der Umwelt durch den Menschen hat dazu geführt, dass
die Möwen Fressmeilen und freundliche Touristen für sich entdeckt haben:
Wow, dass ist so schön geschrieben, dass man direkt Lust bekommt, sofort selbst hinzufahren! Klasse!
AntwortenLöschenHey, danke, lieber Daniel! Ja, ist schon ein schnuckliger kleiner Ort und außerhalb der Saison schön verträumt und ruhig.
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