Freitag, 3. Juli 2020

Von Menschen und Schubladen

Das gesellschaftliche Klima ist rauer geworden und Meinungsverschiedenheiten werden zunehmend aggressiver ausgetragen. Die Fronten verlaufen kreuz und quer durch alle Schichten und reichen bis in die Familien und Freundeskreise hinein. FB-Nutzer fordern ihre Freunde auf, die Freundschaft zu beenden, sofern sie andere Meinungen als die ihrigen vertreten. 

Es scheint, als gäbe es im Diskurs über gesellschaftliche Probleme nur noch die Extreme Richtig und Falsch; jegliche Abweichung von der öffentlichen Meinung, und sei es auch nur um Nuancen, wird mit Misstrauen betrachtet und deren Verteidiger an den Pranger gestellt. Devise: null Toleranz.  Wo ist die Mitte hin, die Akzeptanz für andere Standpunkte, die Meinungsvielfalt? Wo ist das Zuhören hin, getragen von der Intention, die Ansicht des jeweils anderen zu verstehen?


Ich lebe in einer Welt der Menschen. Ob ich zu Fuß durch meine Siedlung unterwegs bin oder an der Elbe entlang radele, ob ich einkaufen gehe oder in meinem Gärtlein werkele, Inliner fahre oder im Biergarten sitze, in der Kiesgrube bade oder in der Wiese liege, in der Bibliothek Bücher ausleihe oder im Park Tischtennis spiele: ringsumher Menschen. Kleine, große, junge, alte, schlanke, füllige, gestylt oder sportlich, blass oder sonnengebräunt, freundlich oder reserviert, fröhlich oder ernst. Menschen. Mit denen ich gern Worte wechsele, aus denen manchmal ein Gespräch über Gott und die Welt entsteht. Denen ich zuweilen zulächele und ein Lächeln – freundlichste Währung der Welt - zurückerhalte. Menschen. Die meine Ansichten und Überzeugungen teilen. Oder nur teilweise. Oder überhaupt nicht. Doch auch dann, wenn ich mit ihnen diskutiere, selten - streite, bleiben sie für mich zuallererst: Menschen. Mit ihren ganz persönlichen Prägungen, Erfahrungen, Freuden und Nöten, Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen, Wünschen, Ängsten. 

Lese ich Presseberichte oder Verlautbarungen von Politikern zu Ereignissen und Entwicklungen im Lande, kommen Menschen dort zunehmend seltener vor. Anstelle dessen – besonders dann, wenn der offiziell vereinbarte und über die Leitmedien verbreitete gesellschaftliche Konsens nicht in Bausch und Bogen geteilt wird – Schubladen. Auf denen u. a. steht: Ausländerfeinde, Rassisten, Nazis, Aluhüte, Verschwörungstheoretiker, Coronaleugner, Covidioten.  

Politiker bezeichnen Bürger als Pack oder braunen Mob. Der WDR-Kinderchor trällert ein Liedchen über Oma, die Umweltsau. Als der Sturm der Entrüstung einsetzt, packt ein freier Journalist selbiger Sendeanstalt noch eins drauf, indem er twittert: "Eure Oma war keine Umweltsau. Stimmt. Sondern eine Nazisau." Eine Journalistin der TAZ sieht Polizisten mangels anderer Verwendbarkeit, weil rassistisch, künftig auf der Müllhalde; in vorangegangenen Beiträgen schreibt sie von deutscher Dreckskultur, wünschend, die Deutschen sollten sich möglichst schnell abschaffen. 

Rentner verprassen die Altersbezüge der Jüngeren. Autofahrer sind Umweltsünder. Alle Ostdeutschen zumindest latent rassistisch veranlagt. Die Flut der Pauschalurteile und Diffamierungen in den Medien reißt nicht ab.

Und viele sind im Publikum, die klatschen Beifall. Standing ovations für Beleidigungen. Beleidigungen? Nicht doch! Die Richter des Bundesverfassungsgerichtes sehen nahezu jede Schmährede durch Artikel 5 des Grundgesetzes – das Recht auf Meinungsfreiheit - gedeckt. Machen sie damit salonfähig. Art 1 GG – die Würde des Menschen ist unantastbar – hingegen ist längst zum Stiefkind geworden.

Wohin führt der Trend zur pauschalen Verschublädelung?

Zu einer grassierenden Oberflächlichkeit im Denken, das Differenzierung nicht mehr kennt – zu einem Denken in Klischees, in Rastern. Zur radikalen Einordnung anderer Menschen, ja ganzer Teile der Bevölkerung, in die Rubriken Freund bzw. Feind, oftmals ohne fundierte Kenntnis - zur Urteilsbildung genügen einige wenige Schlagzeilen. Zu immer mehr unversöhnlichen Fronten innerhalb unserer Gesellschaft und Gräben, zu tief und zu breit, als dass noch ein konstruktiver Dialog möglich wäre. Zur Vergiftung des gesellschaftlichen Klimas und Zerstörung der Gemeinschaft. Zu Misstrauen, Feindseligkeit, Hass. Die das Potential haben, früher oder später in Taten gegen die als Feind ausgemachte Zielgruppe zu münden.

Sind sich die deutschen Medienhäuser und Politiker – und damit jene, die die öffentliche Meinungsbildung maßgeblich beeinflussen -, bewusst, was sie tun, wenn sie radikale und nicht selten beleidigende Pauschalurteile publizieren, ganze Teile der Bevölkerung abqualifizieren? Sind sie sich ihrer Verantwortung für den gesellschaftlichen Frieden im Lande bewusst? Oder geht es in erster Linie darum, Aufmerksamkeit zu erheischen, Quote zu erzielen um jeden Preis? A la „Gehört wird, wer am lautesten schreit“?

Fest steht, dass diese Entwicklung, der sich nur wenige Journalisten und Politiker entgegenstellen, nicht zur Gestaltung einer friedlichen und damit lebenswerten Gesellschaft beiträgt. Dass Probleme nicht gelöst werden, indem man Feindbilder etabliert und jegliche Meinungsäußerung, die nicht zu 100% die öffentliche Sichtweise widerspiegelt, entweder zu unterbinden versucht oder sanktioniert. Dass man damit lediglich für schwelenden Unmut innerhalb der Bevölkerung sorgt und - massiv zu ihrer Spaltung beiträgt.

Man sagt, wir lebten in einer Demokratie. Die Wikipedia wie folgt definiert:

„Demokratie (von altgriechisch δημοκρατία ‚Herrschaft des Staatsvolkes‘; von δῆμος dēmos „Staatsvolk“ und altgriechisch κράτος krátos „Gewalt“, „Macht“, „Herrschaft“) bezeichnet heute Herrschaftsformen, politische Ordnungen oder politische Systeme, in denen Macht und Regierung vom Volk ausgehen (Volksherrschaften). Dieses wird entweder unmittelbar (direkte Demokratie) oder durch Auswahl entscheidungstragender Repräsentanten (repräsentative Demokratie) an allen Entscheidungen, die die Allgemeinheit verbindlich betreffen, beteiligt.[1] In demokratischen Staaten und politischen Systemen geht die Regierung durch politische Wahlen aus dem Volk hervor. Da die Macht von der Allgemeinheit ausgeübt wird, sind Meinungs- und Pressefreiheit zur politischen Willensbildung unerlässlich.[2][3][4] Weitere wichtige Merkmale einer modernen Demokratie sind freie und gleiche Wahlen, das Mehrheits- oder Konsensprinzip, Minderheitenschutz, die Akzeptanz einer politischen Opposition, Gewaltenteilung, Verfassungsmäßigkeit, sowie Schutz der Grund-, Bürger- und Menschenrechte. Diese liberale Wertebasis, die als solche auch durch Mehrheitsentscheidung nicht antastbar ist, unterscheidet sie auch wesentlich von einer Ochlokratie, Volksrepublik oder Tyrannei der Mehrheit."

Und noch einmal Wikipedia – zum Begriff „liberale Wertebasis“: „Leitziel des Liberalismus ist die Freiheit des Individuums vornehmlich gegenüber staatlicher Regierungsgewalt, er richtet sich gegen Staatsgläubigkeit, Kollektivismus, Willkür und den Missbrauch von Macht bzw. Herrschaft."

Diese Definitionen zugrundegelegt: Leben wir wirklich noch in einer Demokratie?

Wie unzählige andere Menschen, denen der schärfer und unflätiger gewordene Tonfall in der öffentlichen Auseinandersetzung und die Diffamierung Andersdenkender durch Politiker und Journalisten missfällt und die sich einen sachlichen, respektvollen, auf Fakten basierenden Dialog zwischen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen wünschen, habe auch ich weder Mittel noch Wege, dies zu beeinflussen. Jedoch eine Vision, wie es dennoch aus der Mitte der Gesellschaft heraus gelingen kann: 

Kündigen wir jenen die Gefolgschaft, die Menschen mit wohlfeilen Etiketten versehen und Feindbilder etablieren. Kündigen wir jenen die Gefolgschaft, die uns suggerieren wollen, es gäbe nur eine einzige richtige Sichtweise auf gesellschaftliche Entwicklungen. Lassen wir uns unser Denkvermögen nicht kastrieren, indem wir nur noch offizielle Verlautbarungen widerkäuen. Lernen wir wieder, zuzuhören und vom eigenen Standpunkt abweichende Meinungen nicht nur auszuhalten, sondern zu akzeptieren. Vielleicht sogar: zu verstehen vor dem Hintergrund der anderen Erfahrung oder Prägung. Verabschieden wir uns von den Schubladen und betrachten Andersdenkende wieder als das, was sie sind: Menschen mit anderen Ansichten und Überzeugungen. 

Weil Gesellschaft nur miteinander geht.


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