Montag, 27. Juli 2020

Hammers nu?! Die unterschätzte Tugend Geduld

Heut Morgen im Netto: Ein alter Herr hat seine Einkäufe bezahlt und packt sie nun langsam, langsam vom – viel zu kurzen – Packtisch am Ende des Kassenbandes in den Korb seines Rollators. Während die Kassiererin bereits die Artikel der nächsten Kundin über den Scanner zieht. Und sich ausgebremst sieht von der Langsamkeit des alten Mannes: Wohin jetzt mit den Waren der Kundin? Einen Moment noch hält sie an sich, um ihn schließlich unwirsch zu fragen: Hammers nu?! (Haben wir's nun?) Und ihm die noch auf dem Packtisch verbliebenen Stücke ungeduldig in die Hand zu drücken.  


Tempo scheint sich in unserer Gesellschaft zum unangefochtenen Wert gemausert zu haben. Und als wäre es nicht schon unerfreulich genug, dass die Arbeitswelt dank Technifizierung, Digitalisierung und Profitstreben von menschengemäßer Geschwindigkeit inzwischen weiter entfernt ist denn je, drehen wir im Privatleben selbst kräftig am Rad. Und kultivieren unsere Ungeduld, bis sie zur Selbstverständlichkeit wird, zum Selbstläufer: Welche Kassenschlange ist die kürzeste? (Falls keine - allseits beliebter Ruf: Könnense ‘ne neue Kasse öffnen? plus anschließendem Wettrennen dahin.) Und warum um Himmels Willen muss die Oma dort vorn das Kleingeld passend abzählen anstatt mit Karte zu zahlen? Warum fährt die Schlaftablette vor mir nicht los, obwohl die Ampel bereits seit einer Sekunde Grün zeigt? Ignoriert der Kellner mich absichtlich, obwohl ich bereits vor fünf Minuten am Tisch Platz genommen habe? Weshalb hält die Bäckersfrau beim Eintüten der Brötchen einen Plausch mit der Kundin – sieht sie die Schlange nicht? Wieso nur schleicht dieser Sonntagsfahrer vor mir in der vorgeschriebenen Geschwindigkeit über die Landstraße, obwohl weit und breit kein Blitzer?

Undsoweiterundsofort. Alles soll, nein muss, immer schnell gehen. Warum eigentlich? Was – wenn überhaupt – gewinnen wir dabei? Zeit? In allen genannten Beispielen und anderen, die Euch vielleicht einfallen, dürfte es lediglich um Minuten gehen, die wir einsparen, indem wir eilen, hetzen, aufs Tempo drücken. Minuten, für die wir einen Preis zahlen, der da heißt: Stress, Druck und Hektik. All das vollständig hausgemacht und nach außen sichtbar in Form von Gereiztheit, Unzufriedenheit, Ärger. Die gute Laune geht flöten und nicht nur die unsere, weil sich Ungeduld selten mit Freundlichkeit und respektvollem Miteinander paart. Hier ebenfalls erwähnenswert die geradezu legendäre Kausalkette aus Ungeduld → Eile → Missgeschick, die wohl jedem von uns schon irgendwann einmal einen Kraftausdruck entlockt hat.

Auch mich suchen zuweilen Anfälle von Ungeduld heim, sei es nun im Wartezimmer meiner Hausärztin oder an der Kasse im Supermarkt. Stelle ich dann fest, gerade innerlich „zu trampeln“, sag‘ ich mir ganz bewusst: Nee, das geht nicht zu langsam, sondern du bist einfach zu ungeduldig! Ein anderes probates Mittel, um gegenzusteuern, ist das Umschalten von der emotionalen auf die rationale Ebene, sprich: der Blick auf die Zeiger der Uhr, wenn man gefühlt schon sooo lange in der Schlange steht, sooo lange an der Ampel auf Grün oder im Restaurant auf den Kellner wartet. Die überraschende Erkenntnis lautet dann meist: Na sowas, in Wirklichkeit sind erst wenige Minuten vergangen …  Eine gute Gelegenheit, sich wieder einmal der Tatsache zu erinnern, dass unser Zeitgefühl höchst subjektiv ist und relativ unzuverlässig.

Wem all das nicht hilft, um seiner Ungeduld die Zügel anzulegen, dem empfehle ich, seine Urlaube in südlichen Ländern einmal Revue passieren zu lassen. Und darüber nachzudenken, was er jenseits von Natur und Kultur als besonders erholsam empfunden hat. War’s nicht auch das gemächlichere Lebenstempo, die Gelassenheit der Menschen, das den Alltag abstreifen half? Die Uhren, die langsamer zu ticken schienen? Kassiererinnen im Geschwindigkeitsrausch und drängelnde Kunden z. B. habe ich weder in Italien noch Portugal noch Frankreich erlebt; der erste Einkauf nach Rückkehr in heimatliche Gefilde jedes Mal ein wahrer Kulturschock. Doch nein – meist setzte die Akklimatisierung an die heimatliche Hektik schon am fernen Flughafen ein, wenn ich die sattsam bekannte, sich bereits wieder anbahnende Ungeduld der Rückkehrer nach Deutschland am Check-in registrieren durfte. Wie schade für sie. Grad noch Urlaubsstimmung und mit einem Fingerschnipp zurück in der Alltagshast.

Glücklicherweise ist Ungeduld kein unabänderlicher Wesenszug und lässt Geduld sich erlernen. Ein erster wichtiger Schritt wäre vielleicht, unsere Erwartungen an die Umwelt infrage zu stellen, d. h. uns selbst nicht als das Maß aller Dinge zu betrachten. Hilfreich sicher auch die Gabe, sich in andere hineinversetzen zu können. So wird die junge Netto-Verkäuferin einst selbst eine betagte Frau sein (jedenfalls wünsche ich es ihr) und es dann zu schätzen wissen, wenn andere Menschen ihr beim Einkauf oder anderswo Geduld und Freundlichkeit bezeigen. 

Doch Alter hin oder her – jeder von uns braucht und wünscht sich in der einen oder anderen Lebenslage Geduld von seiner Umwelt. Praktizieren wir sie also auch selbst. 

Jene aber, die davon überzeugt sind, nie die Geduld anderer zu strapazieren, dürfen sie aus reinem Eigennutz einüben. Und sei es nur deshalb, weil sich's einfach entspannter lebt, wenn all die kleinen, zumeist banalen Quellen für Alltagsfrust der Vergangenheit angehören.

PS. Meine Baustelle, mal kleiner, mal größer, ist seit jeher, Geduld mit mir selbst zu haben. Das aber ist wieder ein anderes Thema ...




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