Sonntag, 15. November 2020

Willkommen im Jahr 2030. Ich besitze nichts, habe keine Privatsphäre und das Leben war nie besser.

(Übersetzung aus dem Englischen, gelesen auf der Website des Weltwirtschaftsforums WEF) 

"Willkommen im Jahr 2030. Willkommen in meiner Stadt – oder sollte ich sagen „unserer Stadt“. Ich besitze nichts. Ich besitze kein Auto. Ich besitze weder Gerätschaften noch Kleidung."

"Es mag dir seltsam scheinen, aber für uns in dieser Stadt ist das absolut sinnvoll. Alles, das du als Produkt betrachtet hast, ist zu einer Dienstleistung geworden. Wir haben Zugang zu Transportmitteln, Unterkünften, Essen und allen Dingen, die wir für’s tagtägliche Leben benötigen. Nach und nach wurden alle diese Dinge kostenlos; das führte dazu, dass es keinen Sinn mehr hatte, viel zu besitzen.

Zuerst wurde die Kommunikation digitalisiert und kostenlos für jedermann. Später, als saubere Energie kostenlos wurde, begannen die Dinge sich schnell zu entwickeln. Transport fiel dramatisch im Preis. Es hatte keinen Sinn mehr, Autos zu besitzen, da jeder von uns innerhalb von Minuten fahrerlose Fahrzeuge oder für längere Reisen fliegende Autos ordern konnte. Als die Personenbeförderung leichter, schneller und bequemer wurde als die Nutzung von Autos, wurde der Transport viel organisierter und koordinierter. Heute kann ich kaum noch glauben, dass wir verstopfte Straßen und Stau akzeptierten, nicht zu reden von der Luftverschmutzung durch Verbrennungsmotoren. Was hatten wir uns dabei nur gedacht?

Manchmal nutze ich mein Fahrrad, um Freunde zu besuchen. Ich genieße die Bewegung und die Fahrt. Es nimmt die Seele mit auf Reisen. Witzig, wie die Begeisterung für manche Dinge nie verlorengeht: Laufen, Radfahren, Kochen, Zeichnen, Pflanzen anbauen. Es fühlt sich sinnvoll an und erinnert uns daran, wie unsere Kultur aus der engen Verbindung zur Natur entstand.

„Umweltprobleme scheinen weit entfernt“

In unserer Stadt zahlen wir keine Miete, weil andere unsere Räume nutzen, wenn wir sie nicht brauchen. Bin ich nicht hier, wird mein Wohnzimmer für Geschäftstreffen genutzt.

Ab und zu entscheide ich, für mich selbst zu kochen. Es ist einfach – das notwendige Küchenzubehör wird innerhalb von Minuten an meine Wohnungstür geliefert. Da Transport kostenlos wurde, hörten wir auf, all diese Dinge in unsere Wohnungen hineinzustopfen. Warum eine Nudelmaschine oder eine Crepepfanne in unseren Küchenschrank packen, wenn wir sie doch einfach bestellen können, wenn wir sie benötigen.

All das machte auch den Durchbruch der Kreislaufwirtschaft leichter. (Anm. d. V.: Kreislaufwirtschaft ist ein Modell der Produktion und des Verbrauchs, bei dem bestehende Materialien und Produkte so lange wie möglich geteilt, geleast, wiederverwendet, repariert, aufgearbeitet und recycelt werden. Auf diese Weise wird der Lebenszyklus der Produkte verlängert.) Wird aus einem Produkt eine Dienstleistung, hat niemand mehr ein Interesse an Dingen mit einer kurzen Lebensdauer. Alles ist dafür entwickelt, haltbar, reparierbar, wiederverwertbar zu sein. Die Materialien fließen schneller in unserer Ökonomie und können leicht in neue Produkte umgewandelt werden. Die Luft ist sauber, das Wasser ist sauber und niemand wagt es die Naturschutzgebiete anzurühren, weil sie einen solch großen Wert für unser Wohlbefinden haben. In unseren Städten haben wir viele grüne Flächen und überall Pflanzen und Bäume. Ich verstehe immer noch nicht, wie wir in der  Vergangenheit jeden freien Platz mit Beton ausfüllen konnten.

Der Tod des Shoppings

Shopping? Ich kann mich wirklich nicht mehr daran erinnern, was das war. Für die meisten von uns hat es sich zu eine Wahl der Dinge, die wir nutzen, gewandelt. Manchmal macht mir das Spaß und manchmal möchte ich einfach, dass der Algorithmus (= eine eindeutige definierte Handlungsanweisung zur Lösung eines Problems oder einer Klasse von Problemen, d. V.)  es für mich erledigt. Er kennt meinen Geschmack inzwischen besser als ich selbst.

Als künstliche Intelligenz und Roboter einen Großteil unserer Arbeit übernahmen, hatten wir plötzlich Zeit, gut zu essen, ausreichend zu schlafen und Zeit mit anderen Menschen zu verbringen. Hauptgeschäftszeiten waren sinnlos geworden, da die Arbeit, die wir tun, zu jeder beliebigen Zeit getan werden kann. Ich weiß nicht einmal, ob ich es noch Arbeit nennen würde. Es ist mehr Nachdenk-Zeit, Gestaltungs-Zeit, Entwicklungs-Zeit.

Eine Zeitlang war alles zu Unterhaltung geworden und die Menschen wollten sich nicht mit schwierigen Themen herumärgern. Erst in letzter Minute fanden wir heraus, wie all die neuen Technologien besser anzuwenden waren als damit nur Zeit totzuschlagen.

„Außerhalb unserer Stadt leben sie ein anderes Leben“

Meine größte Sorge sind all die Menschen, die nicht in unserer Stadt leben. Jene, die wir auf dem Weg dorthin verloren. Jene, die entschieden, dass all diese Technologie ihnen zuviel wurde. Jene, die sich überflüssig und nutzlos fühlten, nachdem Roboter und künstliche Intelligenz einen Großteil unserer Jobs übernommen hatten. Jene, die sich am politischen System störten und sich dagegen wandten. Sie leben ein anderes Leben außerhalb unserer Stadt. Einige von ihnen haben Selbstversorger-Gemeinschaften gegründet. Andere blieben einfach in den leeren und verlassenen Häusern aus dem 19. Jahrhundert.

Ab und zu bin ich genervt von der Tatsache, keine wirkliche Privatsphäre mehr zu besitzen. Kein Ort, an den ich gehen kann, ohne dass es registriert wird. Ich weiß, dass irgendwo alles, das ich tue, denke und träume, aufgezeichnet wird. Und hoffe nur, niemand wird es gegen mich verwenden.

Insgesamt aber ist es ein gutes Leben. Viel besser als der Weg, auf dem wir uns einst befanden, als klar wurde, dass wir das Wachstumsmodell nicht fortsetzen konnten. Es passierten all diese schrecklichen Dinge: Krankheiten durch unseren Lebenswandel, Klimaveränderung, Flüchtlingskrise, Abbau der Umwelt, komplett verstopfte Städte, Wasserverschmutzung, Luftverschmutzung, soziale Unruhen und Arbeitslosigkeit. Wir verloren zu viele Menschen, ehe wir erkannten, dass wir die Dinge auf andere Art und Weise tun konnten.

Anmerkung der Autorin: Einige Menschen haben diesen Blog als meine Utopie oder meinen Traum von der Zukunft gelesen. Das ist er nicht. Es ist ein Szenario, das aufzeigt, in welche Richtung wir gehen könnten – im Guten und im Schlechten. Ich schrieb diesen Text, um eine Diskussion zu Pro und Kontra der gegenwärtigen technologischen Entwicklung zu starten. Wenn es um unsere Zukunft geht, ist es nicht genug, mit Berichten zu arbeiten. Wir sollten in viele neue Richtungen diskutieren. Dies ist die Absicht meines Textes."

***

Der von mir übersetzte Text wurde verfasst von Ida Auken, ehemalige dänische Umweltministerin, und veröffentlicht 2017. Dies nicht irgendwo, sondern auf der Website des Weltwirtschaftsforum unter Global Agenda/Fourth Industrial Revolution/Values (Globale Agenda/Vierte Industrielle Revolution/Werte).

www.weforum.org - Welcome to 2030

Was haltet Ihr davon? Ich selbst bin zwiespältig, obwohl ich mit vielen Visionen der Autorin mitgehen kann, sie für unsere Welt für wünschenswert halte. (Wenn auch in zehn Jahren nicht ansatzweise machbar.) Nicht aber um diesen Preis.

Nicht vorstellen kann ich mir den vollständigen Verlust der Privatsphäre inklusive Fremdnutzung meiner vier Wände, die 100%ige Kontrolle meiner selbst und all meiner Aktivitäten durch – ja, welche Institutionen eigentlich? Und würde das nicht auch dem Missbrauch Tür und Tor öffnen, z. B. mittels Restriktionen aufgrund gesellschaftlich unerwünschten, unliebsamen Verhaltens? Wer entscheidet über die Verteilung/Vermietung der Ressourcen und nach welchen Maßgaben? Ebenso wenig vorstellen kann ich mir die Abgabe meiner Bedürfnisse an einen "Algorithmus".

Noch weniger vorstellbar: dass jene, die jetzt über weit mehr Geld, Macht, Einfluss verfügen, als für unsere Welt gut wäre, jene, die von genau den globalen Verhältnissen profitieren, die gegenwärtig herrschen, ja – unsere Welt mit ihrer unstillbaren Gier und grenzenlosen Selbstüberhebung überhaupt erst dorthin gesteuert haben, sich diesem neuen Lebensmodell beugen würden. Und die anzutreffen sind zum Beispiel unter den globalen Eliten, die sich bei den Treffen des Weltwirtschaftsforums regelmäßig die Klinke in die Hand geben. Im Januar 2020 in Davos waren es neben hochrangigen Politikern 119 Milliardäre. Die selbsternannte künftige Weltregierung, die in ihrem Elfenbeinturm über unsere Zukunft entscheidet?

Weitere Links:

Wikipedia - Ida Auken

Der Tagesspiegel - Treffen WWF Davos, Januar 2020


 

 

 

 

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