Gestern fand in Berlin die Großdemo gegen die Unterzeichnung der Novelle des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) statt. Ein Gesetz, dass künftig alle Maßnahmen und Beschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Regierung im Zusammenhang mit dieser – und künftigen Pandemien – legitimieren soll, ohne dass die Zustimmung des Parlaments eingeholt werden muss.
Plakat: "Wir Bürger sollten uns täglich daran erinnern, dass die Politiker nur unsere Angestellten und nicht unsere Erzieher sind." |
Die Onlineausgabe der WELT, die noch am 17. November „Demokratiedämmerung“ titelte - der Autor sprach darin vom bevorstehenden Gesetz als einem Schlag ins Gesicht der Demokratie, veröffentlichte heute unter der Schlagzeile: „Der Staat muss zeigen, wer in diesem Land das Gewaltmonopol hat“ u. a. die Aussage der deutschen Innenministerin Christine Lambrecht, SPD zur Demo:
„Lambrecht sagte auf die Frage, ob die „Querdenken“-Bewegung zu einem Fall für den Verfassungsschutz werde, dass diese Einordnung die Verfassungsschutzämter treffen müssten. Die „Querdenken“-Bewegung trägt die Proteste. „Wenn man aber liest, was auf manchen Plakaten steht, gibt das einem schon zu denken. Was bei einigen der sogenannten Querdenker zu beobachten ist, entspricht nicht unserer Verfassungsordnung. Es stellt sich die Frage, ob die Bewegung ein Sammelbecken für Rechtsextremisten, Antisemiten und Verschwörungstheoretiker geworden ist.“ Die Geschichte vom einfachen, besorgten Bürger, der auf die Straße geht, könne sie vielfach nicht mehr nachvollziehen.“
Ich bedauere Frau Lambrecht zutiefst. Zum einen für ihr Informationsdefizit. Die Demo stand keinesfalls unter der Regie der Querdenker und tatsächlich trat diese bundesweite Initiative in Berlin kaum in Erscheinung. Vielmehr waren für diesen Tag in Berlin mindestens zwölf verschiedene Demos angemeldet worden, darunter von „Eltern stehen auf“ und HonkforHope. Interesse vorausgesetzt, wäre diese Info für die Frau Ministerin gewiss zu erlangen gewesen.
Tatsächlich aber habe ich viele Rechtsextremisten und Antisemiten gesehen, vor allem jene mit Regenbogenfahnen, großen roten Herzen "Distanz wird Verbundenheit", Trommeln, Trillerpfeifen, Räucherstäbchen auf bunten Teppichen. Mit einer Israelflagge. Oder diese Seniorinnen mit den gepflegten grauen Löckchen, inmitten der Demonstranten auf Faltstühlen sitzend. Wahrhaftig: Rechtsextreme und Antisemiten aller Alters- und Bevölkerungsgruppen. Deutschland, Deutschland, was ist nur aus Dir geworden? (Das Etikett "Verschwörungstheoretiker" lasse ich hier einmal weg, steht es doch inzwischen für jegliches selbstständige Denken.)
Ebenfalls sehr bedauerlich, dass Frau Lambrecht „die Geschichte vom einfachen, besorgten Bürger, der auf die Straße geht“ nicht mehr nachvollziehen kann. Könnte das eventuell daran liegen, dass sie und andere Angehörige der obersten politischen Kaste mit dem „einfachen, besorgten Bürger“ keinen Umgang pflegen? Hier eine Art ausgeprägten und längst stabil etablierten Realitätsverlustes greift? Versteh' ich. Welche Herrschaft schließlich wird Umgang mit Domestiken pflegen, geschweige denn Wert auf ihre bescheidene Meinung legen.
Was ich nicht mehr nachvollziehen kann: Von welchem Typus Mensch wir regiert werden, von welch ignorantem und bürgerfernen, um nicht zu sagen: -feindlichen Typus Mensch über Wohl und Wehe unseres Landes und seiner Bevölkerung entschieden wird. Nur leider kann ich mir jene ebenso wenig aussuchen wie umgekehrt.
Zur Demo selbst: Ich bin froh, dass ich gestern Gelegenheit hatte, aus erster Hand ein Bild von unserem "freiheitlich-demokratischen Staat" gewonnen zu haben. Der vor dem Brandenburger Tor und auf der Straße des 17. Juni mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vorging. Wenn es auch nicht neu war, siehe Stuttgart21 oder neulich in Frankfurt. In den Polizeiuniformen überwiegend blutjunge Männer und Frauen, die meine Kinder hätten sein können. Nein – die meisten von ihnen waren wohl noch weit jünger. Bezeichnende Episode am Rand: Als die Straße des 17. Juni von Demonstranten geräumt werden sollte, Durchsage der Polizei: Räumen Sie die Straße! Bleiben Sie friedlich! Der größte Teil der Demonstranten räumte die Straße, zog sich in den angrenzenden Park zurück. Woraufhin die Strahlen der Wasserwerfer in den Park gerichtet wurden… Jo. So geht Demokratie. Oder, wie es Horst Seehofer formuliert: Der Rechtsstaat lebt. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder Bürger eigenverantwortlich darüber entscheiden könnte, ob und wie er seine Gesundheit schützt?
Manch einen hörte ich zwar sagen, die erlebte Staatsgewalt mache ihn fassungslos oder dafür sei er 89 nicht auf die Straße gegangen, aber diese Leute haben eben einfach ein falsches Demokratieverständnis.
Zur Abstimmung des IfSG: Durchgewunken wurde es mit den Stimmen von CDU, SPD und Grünen. Zwar hört man, die Grünen hätten im Vorfeld „Bauchschmerzen“ gehabt, aber mei, dös gibt sich. Als hoffnungsvoller Koalitionspartner der CDU in spe muss man eben auch die eine oder andere unbequeme Entscheidung mittragen. Auch soll nicht allen SPD-Mitgliedern wohl dabei gewesen sein. Weil’s aber eine namentliche Abstimmung war, dürfte sich kaum einer von ihnen der Parteiräson verweigert haben.
Einen schmerzhaften Spagat legen gegenwärtig auch die Linken hin. Einerseits stimmten ihre Parlamentarier gegen das Gesetz, andererseits betrachten viele linksgerichtete Gruppierungen die Gegner der Coronamaßnahmen in Bausch und Bogen als Rechtsextreme. Autsch.
Ich hatte noch am Vorabend der Demo überlegt, ob ich tatsächlich nach Berlin fahre. Aufstehen mit den Hühnern am Feiertagsmorgen, die Uneinschätzbarkeit des Geschehens im Vorfeld, die Bilder der Polizeigewalt der letzten Großdemo in Berlin im Hinterkopf. Dann aber: Ja! Weil: Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt. In Dresden zurück, war ich froh über diese Erfahrung. Froh, gesehen zu haben, wie Menschen sich für ihre Grundrechte stark machen. Und erfahren zu haben, dass Zusammenhalt noch möglich ist - generationsübergreifend, ideologieübergreifend, länderübergreifend. Distanz wird Verbundenheit.
PS. Innensenator Geisel (jener, der noch am Vortag den Einsatz der Wasserwerfer entschieden ablehnte), spricht von "harten Rechten", die gestern an der Demo teilgenommen hätten. Ich war von 11 - 16 Uhr vor Ort und Augenzeuge durchaus wütender Wortmeldungen seitens Demonstranten, u. a. auch aus alternativen Kreisen, die sich gegen die Willkür des Staates richteten. Rechtsradikale Parolen/Übergriffe - die immerhin massiv gewesen sein müssen, da man seitenlang darüber berichtet - kann ich persönlich nicht bestätigen. Tatsächlich haben die Demo-Teilnehmer das gesamte kritisch denkende Spektrum der Bevölkerung abgebildet.
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Links:
WELT: Justizministerin verteidigt Wasserwerfer-Einsatz
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