Freitag, 2. Oktober 2020

Leben in der besten aller Welten? 30 Jahre Beitritt der DDR zur BRD

Dieser Blogbeitrag ist mir tatsächlich zu einer Art Schreibtherapie geraten: Raus mit dem Schmodder! Auch wenn es mich nur für den Moment erleichtert und natürlich nichts verändert im etabliertesten aller Gesellschaftssysteme. Das sich allein schon deshalb für alternativlos hält, weil es alle anderen überlebt hat. Vielleicht, weil es dem Menschen, dieser unvollkommenen und zweifellos nur eingeschränkt vernunftbegabten Spezies, tatsächlich am besten entspricht? Ihm im Grunde seines Wesens sein Ego stets wichtiger bleibt als moralische Erwägungen? Haben anstatt Sein?

Soweit zu meinem Intro. Wer vom positiven Denken infiziert ist, wird den Beitrag nach diesem Auftakt unangenehm berührt wegklicken. Darf er. Um den 3. Oktober und alle Segnungen des Kapitalismus, deren wir vor 30 Jahren teilhaftig geworden sind, gebührend zu feiern.

Ich sage es unumwunden: Nein, ich halte dieses Gesellschaftsmodell nicht für alternativlos und letztlich nicht einmal für humanistisch. Und ja: Ich bin froh, dass ich in einer anderen Gesellschaftsform aufgewachsen bin. In der Werte wie Gemeinschaftssinn und Solidarität mehr zählten als Individualisierung & elitäres Denken, der Mensch im Vordergrund stand anstelle des Kapitals. Er noch nicht Ware war, dessen Wert sich strikt am Verhältnis von Angebot und Nachfrage orientiert.

Auch in diesem Jahr werden wir wieder in zahllosen Beiträgen lesen dürfen, was alles an Gutem die große und begüterte Schwester BRD ihrem kleinen östlichen Aschenputtel in 30 Jahren geschenkt hat. Und vermutlich wird auch in diesem Jahr wieder reichlich Verwunderung bis Entrüstung darüber herrschen, mit welcher Undankbarkeit all diese „großherzigen Geschenke“ vom Osten aufgenommen wurden. Tja. Wie kommt das nur?

Nun, vielleicht hat sich für nicht wenige hier im Osten die „Wiedervereinigung“ – ein Begriff, der aus meiner Sicht schon im Ansatz falsch ist, weil a) nicht wiedervereinigt werden kann, was sich 45 Jahre lang grundverschieden entwickelt und in dieser (Gesellschafts-)Form nie vorher zusammengehört hat und b) aus einer Vereinigung normalerweise eine Melange aus den Schnittmengen aller Beteiligten resultiert – in Teilen als Danaergeschenk erwiesen.

Wikipedia schreibt dazu:
"Die Begriffe Wiedervereinigung oder Vereinigung sind dabei historisch ungenau, da nur ein Beitritt der auf dem Staatsgebiet der DDR neu gebildeten Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes nach Artikel 23 GG alter Fassung erfolgte […].

Ich selbst, damals 28 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder und gerade mit meiner jüngsten Tochter im Mutterschaftsurlaub, habe das Ende der DDR und das Anbrechen einer neuen Zeitrechnung mit Trauer und Skepsis betrachtet und vor allem nicht verstanden, warum man selbst das, was gut gewesen war und bewahrenswert, mit einem Federstrich über Bord gehen ließ. Zumal eigentliches Ziel der Bürgerinitiativen in der Vorwendezeit war, die DDR zu demokratisieren, nicht: sich der BRD anzuschließen.

In meinen Tagebüchern findet sich jener Eintrag vom 02.10.90:  Heute Nacht passiert‘s – Schlag 24 Uhr treten wir der BRD bei – es gibt keine DDR mehr. In unseren Köpfen, unserer Lebensweise aber wird sie noch lange sein. W. und ich jedenfalls sind doch ziemlich wehmütig – zumal es der Affenzirkus unserer gewählten Volkskammer nicht geschafft hat, das Positive aus unserer Gesellschaft mit ins vereinte Deutschland zu retten. Kindereinrichtungen, Kultureinrichtungen, Polikliniken, Schulsystem, die Paragraphen zur Homosexualität und Schwangerschaftsunterbrechung (beides bei uns straffrei – drüben nicht) und Hunderte von Werktätigen hängen in der Luft. Man hätte doch besser das Positive von DDR und BRD vereinen sollen als einfach alles Westliche zu übernehmen. Und unsere Regierung aus CDU-FDP-SPD ließ sich alles von der Bonner Regierung diktieren, brachte dabei aber noch schnell die eigenen Schäfchen ins Trockene: 1 Abgeordnetengehalt = 5 – 7.000 DM.“

Tja, und dann änderte sich alles in rasender Geschwindigkeit; es wurde keine Zeit verloren bei der Übernahme des Ostens. Betriebe und Kombinate wurden „abgewickelt“, d. h. liquidiert oder gesamtvollstreckt, so dass mangels Arbeit und daraus folgend Wegzug der Menschen ganze Landstriche verödeten. Die Treuhand beeilte sich, westdeutschen Unternehmen unliebsame ostdeutsche Konkurrenten aus dem Feld zu räumen bzw. in westdeutsche Hände hinein zu privatisieren. In den verbliebenen größeren Betrieben, Kliniken, der Verwaltung ohnehin, wurde nicht nur in der obersten Hierarchiestufe mit eisernem Besen durchgekehrt und die ehemals leitenden Mitarbeiter wegen „Staatsnähe“ durch Chefs aus den alten Bundesländern (ABL) ersetzt, die in der Folge zumeist auch die nachgeordneten Positionen mit Angestellten aus ihrer Heimat besetzten und Aufträge mehrheitlich westdeutschen Unternehmen erteilten. (Nach 1945 übrigens handhabte die BRD die Neubesetzung der Ämter wegen Staatsnähe zum NS-Regime längst nicht so konsequent.) Immobilien und Ländereien wechselten den Besitzer – von Ost nach West. (Ein lange hier kursierender Witz: Wann ist die deutsche Einheit abgeschlossen? Wenn auch die letzte Immobilie einem Wessi gehört.) Die Rückgabe-vor-Entschädigung-Regelung führte dazu, dass zahllose Familien der ehemaligen DDR Wohnungen und Häuser an die alten-neuen Eigentümer aus den ABL verloren. Millionen Werktätige (= Name für Arbeitnehmer in der DDR) standen quasi über Nacht ohne Arbeit da, ganze Berufsgruppen fielen weg. Viele von ihnen begannen zu pendeln, montags gen Westen, freitags retour. Flexibilität das Gebot der Zeit.

Ich selbst habe es mir damals als Glück angerechnet, nach eineinhalb Mutterschaftsjahren mittels Stellengesuch in einer Zeitung (ja, so etwas führte damals noch zum Erfolg) eine Anstellung in einem Büroservice zu finden, in dessen Büros die westlichen Goldgräber – Banken, Versicherungen, Anwaltsbüros u.ä. - residierten, um den Markt in Dresden auf Gewinnträchtigkeit abzuklopfen. Peter Dussmanns Pedus Service. Das Arbeitsklima grundverschieden zu dem, was ich vorher gewöhnt war: äußerster Zeitdruck, Konkurrenzdenken selbst innerhalb unseres Mini-Teams, eine Chefin, die mit eiserner Hand regierte, 8-h-Tage und oftmals länger trotz Halbtagsanstellung. Ein allgegenwärtiges Machtgefälle von oben nach unten. Null Augenhöhe, Wertschätzung, Fairness. Und die Goldgräber selbst? Waren, wenn's auch freundliche unter ihnen gab, unübersehbar an Dienerinnen gewöhnt. Lange war der schwarze wehende Wessimantel für mich Symbol für Gutsherrenart und Arroganz. (Kleines Detail am Rande: Im Zuge meiner ersten Kontenklärung in Sachen Rente durfte ich erfahren, dass P. Dussmann keine Sozialbeiträge für mich abgeführt hatte. Und laut Auskunft der Berliner Unternehmensverwaltung waren auch keine Unterlagen mehr aus jener Zeit verfügbar, da man nicht verpflichtet sei, diese so lange aufzuheben. Glücklicherweise konnte ich der Rentenversicherung Arbeitsvertrag und Gehaltsabrechnungen vorlegen.)

Dies also war meine erste Begegnung mit der neuen Arbeitswelt. Und jedenfalls nicht unbedingt dazu angetan, sich den neuen Verhältnissen in Zuneigung zu nähern, zumal das Familienleben zu Hause durch lange Arbeitstage und permanente Erschöpfung zusehends litt. Inzwischen hab ich vieles schon erlebt: neben menschlichen, wertschätzenden Vorgesetzten mehrfach das Gegenteil davon, darunter auch Ossis, die offenbar blitzschnell gelernt hatten, wie der neue Hase lief: ich hier oben, du da unten. Willkommen im Hierarchiedenken. Das sich bis heute eher vertieft hat und das ich für grundfalsch halte und einen wahren Motivationskiller. Für mich gilt, was mir einst ein Dresdner Familienunternehmer sagte: Titel spielen für unsere gemeinsame Arbeit hier keine Rolle - jeder tut an seinem Platz das, was er am besten kann. Nun, diese Denke dürfte mittlerweile weitgehend ausgestorben sein.

Zur Veränderung unserer gesamten Arbeits-, Lebens-, vor allem aber auch: Wertewelt kam die beständige und bis heute unveränderte Von-oben-herab-Attitüde, derer sich bundesdeutsche Medien im Umgang mit dem Osten befleißigten. Hatten doch westdeutsche Verlage in Nullkommanichts die gesamte Medienlandschaft im Osten übernommen, sich damit die Deutungshoheit gesichert. Mit Erstaunen las ich, hörte ich, wie furchtbar trist wir gelebt hatten, was wir entbehrt hatten, was verkehrt gelaufen war: nämlich einfach alles. Welcher Gesellschaftsbereich der ehemaligen DDR auch immer in Rede stand – es wurde kein gutes Haar daran gelassen. Alles an unserem Land, unserem Leben, unseren Überzeugungen war falsch gewesen, war schlecht gewesen. Und wir selbst von nun an wahlweise Täter oder Opfer oder Mitläufer: Wie konnten wir nur? Und das Arbeiten müsse man uns sowieso erst beibringen. Und Rabenmütter seien wir, die wir arbeiten gingen, während unsere Kinder in Kinderkrippen- und gärten betreut wurden. Und unsere Abneigung gegenüber Ausländern erklärte sich aus unserem Eingesperrtsein, unserer Weltfremdheit. (Leicht aufzuklärender Unsinn übrigens: In den Großbetrieben der DDR arbeiteten Tausende Vertragsarbeiter aus Afrika und Asien. An der Dresdner TU studierten zahlreiche Ausländer, z. B. aus Syrien. Ausländerfeindlichkeit ist mir in meinem Umkreis nie begegnet.) Und so waren und sind wir in der Wahrnehmung vieler alteingesessener Bundesdeutscher bis heute die unmündigen Kinder geblieben. Die sich einem Unrechtsstaat unterordneten, die keinerlei Demokratieverständnis besitzen. Denen man immer wieder sagen muss, wo’s lang geht und denen man gern eine ordentliche Standpauke hält, wenn sie aufmüpfig werden, d. h. sich Meinungen außerhalb des gesellschaftlich akzeptierten Konsens‘ leisten. Eines der frühesten Beispiele: die Verunglimpfung der Montags-Demonstranten im Osten nach Etablierung von Hartz IV. Demos, die damals übrigens auch in Bremen und im Ruhrpott stattfanden, dies aber wurde von den Medien nur am Rande erwähnt.

Der überwiegende Teil der westdeutschen Politiker und Medien hat sich zu keiner Zeit und in keiner Weise je bemüht, das Leben in der DDR  - und damit uns – realistisch, d. h. mit Schatten und Licht zu sehen, realistisch darzustellen. Es herrschte und herrscht noch immer vor: nicht nur kein Bemühen zu verstehen, sondern ein aus meiner Sicht ausgeprägtes Desinteresse. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf? Weil die einzig akzeptable Sichtweise auf ein als feindlich empfundenes Gesellschaftsmodell – den Sozialismus – negativ sein muss und zwar in allen Belangen? Mit solch Siegermentalität jedoch, die jeglichen Respekt und selbst noch den Anschein von Augenhöhe vermissen lässt, schafft man sich keine Freunde und schon gar nicht: ein Zusammenwachsen.

Ich könnte hier noch vieles anfügen, das vor den Kopf stieß. Sei es der Begriff Buschzulage für das zusätzliche Salär, dass westdeutsche Neubürger, die gewillt waren, nach der Wende im Osten zu arbeiten, erhielten. Sei es der Begriff Dunkeldeutschland, sei es, dass der sächsische Dialekt im TV im Handumdrehen zum Inbegriff des Deppentums wurde.  Ach Leute, wie oberflächlich. So oberflächlich wie vieles in diesem Gesellschaftssysstem. 

Tatsächlich waren wir natürlich Deppen. Nämlich im Sinne von naiv. Wenigstens jene müssen es gewesen sein, die einst dem großen Helmut zu Füßen gefallen waren, um zu rufen: "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh'n wir zu ihr!“ Bar jeglichen Stolzes. Und augenscheinlich glaubend, ihnen würden von nun an die gebratenen Tauben direkt ins Maul fliegen. Als hätte eine derart massive gesellschaftlich-wirtschaftliche Veränderung nicht immer ihren Preis. Und obwohl ich normalerweise nicht zu Häme neige, habe ich manchmal im Stillen gehofft, genau jene mögen es gewesen sein, die der Verlust ihres Arbeitsplatzes zuerst ereilt hat. (In diesem Zusammenhang:  Dresden wurde bekanntlich „Tal der Ahnungslosen“ genannt, da zu Zeiten der DDR der Empfang westlicher Sender hier schwer bis unmöglich war. In weiten Teilen der Republik jedoch war dieser Empfang möglich. Meine Frage: Habt Ihr, die Ihr „Westfernsehen“ empfangen habt, nur bunte Samstagabendshows und Werbung inhaliert? Anderenfalls hättet Ihr doch wissen können, wie die bundesdeutsche Realität inklusive Arbeitswelt/Arbeitslosigkeit etc. ausschaut? Hat’s Euch dennoch gelockt - mit all dem bunten Konsum, den schnittigen Waaagen? Oder dachtet Ihr: So schlimm wird’s schon nicht werden?)

Was wir in der Mehrzahl ebenfalls waren: weit entfernt von westdeutscher Geschäftstüchtigkeit mit all ihren Finten und dazu unvermögend. Nicht nur finanziell, was uns daran hinderte, am großen Umverteilungskarussell zu partizipieren, sondern auch kognitiv. Fiel es uns doch schwer, zwischen Schein und Sein - es ist nicht unbedingt drin, was draufsteht - zu unterscheiden. Zumal jene, die jetzt am Ruder saßen, die Kunst der Fassade perfekt beherrschten.

An dieser Stelle füge ich eine – sicher unvollständige - Aufzählung ein, die deutlich macht, warum das Leben in der DDR für mich trotz Mauer und fehlender Reisefreiheit lebenswert war, ich mich in diesem Staat wohl und zu Hause gefühlt habe.

Arbeit

Jeder hatte einen Arbeitsplatz und damit eine Existenz. Überwiegend am Wohnort.
Jede Arbeit, jeder Beruf war gleich ehrenwert, ob Betriebsleiter, Akademiker, Arbeiter am Montageband oder Hofarbeiter. Oder Reinigungsfrau. Monotone bzw. körperlich schwere Arbeit wurde zusätzlich finanziell honoriert. Mobbing/Bossing u. ä. Fremdworte. Überstunden auch. Die Radfahrermentalität (nach oben buckeln, nach unten treten) mag’s zwar gegeben haben, mir persönlich ist sie nicht begegnet.

Außenpolitik

Die DDR hat sich nie an Kriegen beteiligt; die NVA eine reine Verteidigungsarmee.

Drogen

Alkohol. Zigaretten. Und das war's. Jedenfalls im Inland; über Berlin z. B. kann ich nicht urteilen.

Freizeit

In den Schulen wurden kostenlos außerschulische Arbeitsgemeinschaften zu vielerlei Interessen angeboten: von Mathekurs bis Malzirkel. Unsere Musiklehrerin unterrichtete nach Schulschluss, ebenfalls kostenlos, Gitarre und Akkordeon.

Alle Sportgemeinschaften waren im DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund) organisiert. Die Mitgliedschaft kostete monatlich 80 Pfennige. Für diesen Obolus konnte man in jeder Sportgemeinschaft trainieren oder einfach Breitensport betreiben. (Bei mir war’s Tischtennis.)

Es gab zahlreiche Jugendklubs mit einem abwechslungsreichen und bezahlbaren Veranstaltungsangebot bzw. der Möglichkeit, sich dort einfach zu treffen. Oder im Klubaktiv mitzuwirken, Veranstaltungen zu organisieren, zu betreuen.

Die Mitgliedschaft in Bibliotheken war kostenlos. Generell waren alle kulturellen Angebote von Museum über Kino bis Konzert für jeden erschwinglich.

Gleichstellung von Mann und Frau

Privat und beruflich selbstverständlich, damit einhergehend die finanzielle Unabhängigkeit der Frau. 

Kinder & Betreuung

Für jedes Baby gab’s 1.000 M Begrüßungsgeld (für mich ein doppeltes Monatsgehalt!) für notwendige Anschaffungen.

Kinderkrippe und Kindergarten waren kostenlos, ein kleiner Obolus war für’s Mittagessen zu entrichten.

Der Status alleinerziehende Mutter war weder Makel noch existenzbedrohend. Und wurde auch „Kind krank“ nicht mit Begeisterung aufgenommen, so wäre man doch nie auf die Idee gekommen, deshalb um seinen Arbeitsplatz zu fürchten.

Nachdem meine Tochter wiederholt Bronchitis hatte, die mit Penicillin behandelt wurde, beantragte ich eine sogenannte Langzeitkrankschreibung, die es mir gestattete, bezahlt und mit einem Rezept für die Sauna versehen 8 Monate daheim zu bleiben.

Kriminalität

Wenn ich auch nicht ausschließe, dass wir manches/vieles nicht erfahren haben, so dürfte allein schon die Tatsache, dass wir verschlossene Haustüren zu den Treppenhäusern nicht kannten, für eine geringe Kriminalität sprechen. Und - man höre und staune - unsere Kinderwagen haben wir während des Einkaufs vor den Läden geparkt. Ohne Angst. An Taschendiebstähle, Fahrradklau großen Ausmaßes geschweige denn Einbruchserien/organisierte Kriminalität erinnere ich mich ebenfalls nicht.

Schule (POS – Polytechnische Oberschule; EOS – Erweiterte Oberschule)

War stets Ganztagsschule und umfasste 10 Klassen. Erst nach der 8. Klasse, also mit 14 Jahren, wurde über den weitere Bildungsweg entschieden: Ausbildung oder Abschluss der 10. Klasse oder Wechsel zur EOS, heute Gymnasium. Der Wechsel zur EOS war allerdings limitiert, weil der Staat mehr Arbeiter und Angestellte als Akademiker benötigte.

Leistungsschwächere Schüler wurden durch die Lehrer unterstützt und/oder von ihren Klassenkameraden in Lernpatenschaften betreut, um ihnen zu helfen, das Klassenziel und damit die nächste Klassenstufe zu erreichen. Die Lehrer kümmerten sich auch über den Unterricht hinaus um ihre Schüler, suchten z. B. in schwierigen familiären Situationen das Gespräch mit den Eltern.

Alle Lernmaterialien waren kostenlos. Mittagessen – und Pausenmilch – gab’s für ein geringes Entgelt.

Der Ganztags-Schulhort zur Betreuung der kleineren Klassen war ebenfalls kostenlos; in dieser Zeit wurden unter Aufsicht der Betreuer auch bereits die Hausaufgaben erledigt.

Jede Klasse hatte einen Patenbetrieb, der im Laufe des Schuljahres mehrfach besucht wurde, um die Arbeitswelt kennenzulernen. Diese Paten überreichten der Klasse z.B. auch am Schuljahresende kleine Geschenke und beteiligten sich an den Kosten von Klassenfahrten.

Ab der 8. Klasse gab's ein Unterrichtsfach namens PA (Produktive Arbeit) bzw. UTP (Unterricht in der Produktion); während dieser Zeit arbeiteten die Schüler in einem Betrieb mit, um in die Praxis des Arbeitslebens hineinzuschnuppern. Ich z. B. habe Scherengitter gefertigt oder auch einmal an der Bohrmaschine gestanden.  

Schule und Kinderbetreuungseinrichtungen waren überwiegend zu Fuß erreichbar.

Recycling/Nachhaltigkeit

Gläser, Flaschen, Zeitungspapier wurden gesammelt und zwecks Wiederverwertung gegen Entgelt im einer Altstoffhandlung abgegeben. In meiner Erinnerung gab es generell nur Pfandflaschen.

Technische Geräte oder Bekleidung wurde repariert anstatt entsorgt/neu gekauft.

Wohnen

Wohnraum war knapp und oft unsaniert, jedoch immer bezahlbar.

Und um an dieser Stelle mit dem Märchen aufzuräumen, die DDR sei zum Zeitpunkt des Beitritts "pleite" gewesen - auch, weil sie mit all den Sozialleistungen für ihre Bevölkerung über ihre Verhältnisse gelebt hätte - und damit wirtschaftlich nicht mehr überlebensfähig: Falsch. Die DDR war zwar verschuldet, aber längst nicht zahlungsunfähig. Auszug einem Artikel der Welt aus 2014: "Im Sonderbericht der Deutschen Bundesbank zur Zahlungsbilanz der ehemaligen DDR aus dem August 1999 steht: „Die internationalen Finanzmärkte sahen die Situation jedoch noch nicht als kritisch an. Sowohl im Jahre 1988 als auch 1989 konnten die DDR-Banken Rekordbeträge im Ausland aufnehmen.“
Was ebenfalls wenige wissen: Die BRD war Ende der 80er selbst hoch verschuldet und informierte Bundesbürger wissen, dass der Beitritt der DDR - und damit 17 Mio zusätzliche Konsumenten - für die bundesdeutsche Wirtschaft ein hochwillkommenes Geschenk gewesen ist. Interessante Details dazu habe ich in der Analyse eines Mitglieds der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaft an der Uni Bremen gefunden. (Link im Anhang)

Soweit meine Erinnerungen. Denen ich noch hinzufügen möchte, dass soziale Sicherheit in der DDR eine Selbstverständlichkeit war. Und sich unsere Sozialisierung/Erziehung grundsätzlich an Werten wie Gemeinschaftssinn, Verantwortung für den Mitmenschen, Hilfsbereitschaft, Solidarität, Höflichkeit, Ehrlichkeit, Anstand orientierte. Bescheidenheit sicher auch. Tun anstatt reden. Diese Werte haben mich geprägt und ich find’s gut. Zu Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein vielleicht noch eine Anekdote: Bei den Pentacon Kamerawerken arbeitete einst ein Hofarbeiter. Alkoholiker. Kam er morgens nicht zur Arbeit, holten ihn Kollegen von daheim ab. Das hielt ihn in der Spur. Kein Märchen.

Was Wunder also, dass ich mich in dieser meiner neuen Heimat, neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung oft nicht zu Hause fühle. Mich weder mit Ellenbogenmentalität und Konkurrenzdenken, zu dem bereits die Kinder erzogen werden, noch mit den ausbeuterischen Methoden plus Hierarchiedenken, die in vielen Firmen walten, arrangieren kann. Geschweige denn mit der sich immer weiter öffnenden Schere zwischen arm und reich, dem Heer der Arbeitslosen und Aufstocker oder Obdachlosen und Bettlern im Straßenbild. Und nicht mit dem Schulsystem, das Kindern bereits im zarten Alter von zehn Jahren mitgibt: die guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen. Mit der Chancenungleichheit der Menschen hierzulande, gerügt selbst von der UN, und vollkommen aus der Luft gegriffenen unterschiedlichen Wertigkeit und damit Entlohnung von Berufen, die dazu führt, dass Menschen, die u. a. im sozialen oder Servicebereich arbeiten, mit einem Trinkgeld abgespeist werden (aber hey - der Mindestlohn steigt ab Januar 2021 um immerhin 15 Cent!), wohingegen andere Berufsgruppen sich eine goldene Nase verdienen. Oder damit, dass nahezu alles zuerst einmal Marketing ist, bei dem der Zweck die Mittel heiligt. Ob nun die vollmundigen Versprechen auf Wahlplakaten, Konsumentenwerbung oder Firmen-Prädikate wie oder „Familienfreundliches Unternehmen“ oder „Bester Arbeitgeber“. Schön musses klingen, nicht: wahr sein. So viele Potemkinsche Dörfer... soviel Fassadenmalerei. Die man nach 30 Jahren „Lehre“ wenigstens zu durchschauen imstande ist ebenso wie die verzerrte Berichterstattung in den Medien, weil: Das hatten wir schon mal. Und reagieren vielleicht genau deshalb so empfindlich darauf.

Was nun aber ist besser geworden seit dem Beitritt der DDR zur BRD? Die Qualität des Wohnens. Die Reisefreiheit. Die ärztliche Betreuung. Die Vielfalt des Konsums – dies allerdings ist nicht meine Tasse Tee, da ich eher zu Minimalismus neige und generell der Meinung bin, dass im Namen des Wirtschaftswachstums unfassbare Ressorcen verschleudert und Müllberge produziert werden. Die Umwelt vernichtet wird. Unsere Nachgeborenen werden's uns danken. 

Und wie steht's mit der Freiheit, konkret: Meinungsfreiheit? Nun ja - ich kann diesen kritischen Text hier veröffentlichen, ohne um Leib und Leben fürchten zu müssen. Jedoch vermute ich und das sicher nicht zu Unrecht, dass potentielle Arbeitgeber von diesem Blogbeitrag wenig amüsiert wären. Das "Wo äußere ich was?" dürfte unverändert gelten. Den aufrechten Gang muss man sich auch heute leisten können.

Fest steht, es hätte im Zuge des Beitritts vieles besser gemacht werden können, fairer, gerechter. Die Menschen hier im Osten hätten „mitgenommen“ werden können. Nein: nicht können. Müssen. Wenn man schon das Wort Vereinigung und auch gern den Spruch „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ im Munde führen möchte. 

Ob sich all die schwerwiegenden Fehler noch korrigieren lassen – ich bezweifle es, auch aufgrund der aus meiner Sicht massiven gesellschaftlichen und wirtschaftlichen (Fehl-)Entwicklungen der vergangenen Jahre und dem spürbaren Unwillen des Establishments aus Wirtschaft und Politik, selbst nur im Ansatz gegenzulenken. 

Die einmalige Chance, eine neue Gesellschaft zu erschaffen, in der alle Menschen in Deutschland tatsächlich "gut und gerne" leben könnten, wurde 1990 ein für allemal vertan. Vielleicht aber gelingt den bundesdeutschen Politikern, Journalisten und all jenen, die deren Berichterstattung über den Osten 1:1 verinnerlicht haben, irgendwann doch noch eine Wende anderer Natur, beispielsweise: mit uns zu reden anstatt über uns. 


MOZ - Fehler der Treuhand wirken bis heute

Bildungswesen der DDR 

Uni Bremen - War die DDR bankrott - Fiktion und Wirklichkeit













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