Donnerstag, 24. September 2020

Die alte Dame auf der Gartenbank

Durch mein Küchenfenster kann ich sie sehen: Nach vorn geneigt, den Blick auf den Boden zwischen ihren Füße gerichtet, sitzt sie auf der Bank im Garten. Unbeweglich. Ihre ganze Haltung spricht von Traurigkeit. Eine Traurigkeit, die ich bis zu mir spüren kann. Dann richtet sie sich langsam auf, kommt mühevoll zum Stehen und geht einige Schritte. Sie ist nicht mehr gut zu Fuß, vielleicht die Hüfte. Jetzt bückt sie sich hinunter, zupft etwas aus der Erde. Und setzt sich wieder hin. Streckt ihren Rücken, lässt ihren Blick durch den kleinen Garten schweifen. Denkt sie darüber nach, wie lange ihre Kraft noch reichen wird, sich darum zu kümmern? Oder schaut sie einfach ins Nirgendwo, ist mit ihren Gedanken weit fort?


Zwei Jahre zuvor saß sie noch Seite an Seite mit ihrem Mann auf dem Bänkchen. Er mochte mich so gar nicht. Weil ich Katzen hatte, deren eine sich regelmäßig in den Gärten ringsum verewigte? Weil ich für die Alteingesessenen noch immer „die Neue“ war, die zudem ihre grüne Oase nicht nach guter deutscher Ordnung frisierte? Oder einfach: weil ich jünger war? Hatte ich doch früher schon bei verschiedenen Gelegenheiten verblüfft festgestellt, dass ältere Herren zuweilen im Handumdrehen eine herzliche Abneigung gegenüber jüngeren Frauen fassen. Und so beschränkte sich mein Kontakt mit jener Frau im Beisein ihres Mannes auf einen knappen Gruß über die Gartengrenze, um wenigstens der Höflichkeit Genüge zu tun.

In diesem Frühjahr war‘s, da ich sie morgens allein im Nachbargarten angetroffen hatte. Gefragt, wie es ihr geht, da ich sie lange nicht gesehen hätte, erzählte sie mir, dass es ihr gut geht, sie gerade von einer Busreise zurückgekehrt sei. Ihr Mann aber sei im Jahr zuvor gestorben. Sie wirkte gefasst und ruhig auf mich bei diesen Worten. Ich drückte mein Mitgefühl aus und wirklich – obwohl er mir niemals freundlich begegnet war, tat es mir leid. Um ihn. Um sie. Ein altes Ehepaar, gewiss ein Leben lang umeinander gewesen und nun einer von ihnen allein. Wie mag es sich anfühlen, einen über Jahrzehnte so eng vertrauten Menschen zu verlieren? Wie die plötzliche Stille in den vier Wänden, die man miteinander geteilt hat? Wie lange dauert es, ehe der Verstand den Abschied erfasst und als unwiderruflich begriffen hat? Wie lange, damit seinen Frieden zu machen und wieder zu sehen, was das Leben vielleicht noch an Schönem bereithält? Hatte sie wenigstens Kinder, die in der Nähe wohnten?

Im August dann wachte ich eines Nachts vom lauten Schlagen mehrerer Autotüren auf. Ich kenne dieses Geräusch gut, habe es immer wieder einmal - stets mitten in der Nacht - gehört, seit ich hier wohne. Die schweren Türen eines Krankenwagens. Als ich zum Fenster ging, um es zu schließen, bestätigte sich meine Ahnung: Vor der Tür des Nachbarhauses warteten Notarzt und Krankenwagen. Zwei Männer waren gerade dabei, die Trage aus der geöffneten Hecktür zu ziehen. In Gedanken ließ ich meine Nachbarn Revue passieren - wer von ihnen mochte den Notarzt gerufen haben und warum? War es jener ältere Herr, der seit Monaten so schrecklich hustete und der über eine mir kurz erscheinende Zeit rapide an Kraft verloren hatte? Es wohnen heute längst nicht mehr so viele alte Menschen in unserer Straße wie noch bei meinem Einzug, innerhalb weniger Jahre hat hier ein deutlicher Generationswechsel stattgefunden. Obwohl – und das fällt mir erst jetzt beim Schreiben ein – die Kombination aus hohem Alter und Notarzt mag zwar nahe liegen, ist aber keineswegs zwingend. Hatte doch einst auch für mich ein spätabendlicher Notruf abgesetzt werden müssen. Noch heute erinnere ich mich an die Schreckensfahrt zur Uniklinik, lassen sich doch die teils ordentlich holprigen Straßen Dresdens mit verrückt spielendem Blinddarm erst so richtig „auskosten“. Doch ich schweife ab.

Gern also hätte ich nach jener Nacht im August gewusst, wer der Hilfe bedurft hatte und ob sie rechtzeitig gekommen war. Einfach, weil man sich schon über so viele Jahre kennt. Mich ringsum zu erkundigen – da gibt’s ja schon den einen oder anderen, dem kaum etwas entgeht – schien mir jedoch zu indezent, zu ungebührlich neugierig. Und nun sehe ich die alte Dame, die so still und in sich gekehrt auf ihrer Gartenbank sitzt. Und hoffe - so sie es war, der der nächtliche Besuch gegolten hatte -, sie sei wieder hergestellt. Habe keine Diagnose erhalten, die ihr Leben mit einem Schlag ändern würde. Immer wieder blicke ich durch’s Fenster und nehme mir vor, sie nach ihrem Befinden zu fragen, wenn ich gleich mein Gärtlein gießen werde. Allein - als mein Kaffee ausgetrunken ist, ist sie fort. Morgen will ich schneller sein ... 

Es ist schwer, anderer Menschen Traurigkeit gewahr zu werden und schwerer noch, zu ahnen, dass wir ihnen, wenn überhaupt, nur bedingt Trost spenden können. Oft scheuen wir vor dem fremdem Unglück zurück, unsicher-beklommen wie ein Pferd, das nicht weiß, wie tief die Pfütze vor ihm sein mag. Sei es, weil wir befürchten, die richtigen Worte nicht zu finden oder dem anderen zu nahe zu treten. Sei es, weil wir unser eigenes Glück nicht trüben mögen oder den eigenen Sorgen und Kümmernissen nicht noch fremde hinzufügen möchten. Dennoch scheint es mir eine schlichte Frage von Menschlichkeit und Achtsamkeit, unserem Gegenüber ein Zeichen zu senden, das ihm sagt: Ich sehe Dich. Ich sehe, wie es Dir geht. Und kann ich Dir auch nicht helfen, Deinem Kummer nicht abhelfen, und möchtest Du vielleicht auch lieber nicht darüber sprechen, so tut Dir eine mitfühlende Geste gewiss gut. 

Nehmen wir den anderen für einen Moment symbolisch oder – und warum auch nicht? – tatsächlich in den Arm. So, wie wir es uns wohl selbst wünschen, wenn uns das Leben wieder einmal etwas über den Weg schickt, worum wir nie gebeten haben.

 

 

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