Dienstag, 1. September 2020

Demo Berlin am 29.08.20: Zorn, Entsetzen und ein Lichtblick

Hatte ich Lust, mir diesen Dienstag gleich am Morgen zu verderben? Nein. Schreibe ich trotzdem diesen Beitrag, obwohl das erneute Befassen mit den Eindrücken und Bildern von Sonnabend die Laune gewiss nicht hebt? Ja. Warum? Weil ich der weitgehend unwahren und einseitigen Berichterstattung unserer Medien über das Demogeschehen am Sonnabend in Berlin etwas entgegensetzen möchte. Außerdem, weil ich Bilder zu verarbeiten habe. Unfassbare Szenen über brutale Übergriffe der Polizei auf BürgerInnen, die ihrerseits in keinster Weise aggressiv agierten. Mögen sich unsere Politiker bitte künftig genau überlegen, ob es ihnen noch zusteht, Übergriffe der Polizei auf Andersdenkende in anderen – selbstverständlich „nicht-demokratischen“ Ländern – scharf zu verurteilen. 

Die Initiative Querdenken 711 hatte für den 29. August 2020 die Großdemo „Berlin invites Europe – Celebrating freedom & peace“ angemeldet, als zweite Demo nach dem 1. August. Querdenken sieht durch die Corona-Verordnungen die Grundrechte verletzt und fordert deren Einhaltung ein. Das Manifest der Initiative ist auf der Website Querdenken 711 zu lesen. Eine weitere Forderung: vorgezogene Neuwahlen. Die Parteien sollen sich positionieren, wie sie mit künftigen Pandemien umgehen wollen. Vom Verfassungsschutz wird Querdenken nicht beobachtet; eine Anfrage des Gründers Michael Ballweg wurde vom Verfassungsschutz am 27.05.2020 so beschieden: „Die Teilnahme einzelner Vertreter extremistischer Gruppierungen führt nicht ohne Weiteres zu einer Bewertung der Veranstaltung bzw. Versammlung als insgesamt extremistisch." Querdenken grenzt sich in Pressemitteilungen und Reden immer wieder von extremistischen Akteuren ab. Gleichzeitig stellt Michael Ballweg klar: „Eine Demonstration ist keine Veranstaltung mit Eintrittskarten und Eingangskontrolle. Jeder, der teilnehmen möchte, kann und darf an einer Demonstration teilnehmen." Pressemitteilung Querdenken zur Antwort des Verfassungsschutzes 

Bereits im Vorfeld der Großdemo hatte es Rangeleien zwischen dem Veranstalter Querdenken und Berliner Senat gegeben: Verbot der Demo, anschließend Aufhebung des Verbots durch das Berliner Verwaltungsgericht. Die Auflage: Einhaltung des Mindestabstands von 1,50 bei Verzicht auf Mundschutz.

Ich habe am Sonnabend mehrere Livestreams zur Demo in Berlin von den frühen Morgenstunden an bis zum Nachmittag aufmerksam verfolgt. Die Stimmung war friedlich, der Teilnehmer waren viele, sehr viele. Ein breites Spektrum an Bevölkerungsschichten, Altersgruppen, Weltbildern. Neben der Großdemo der Querdenker hatten an jenem Wochenende auch andere Veranstalter Demos angemeldet - diese standen in keinem Zusammenhang mit der Großveranstaltung von Querdenken und sind damit durch diese auch nicht zu verantworten. 

Die Bundesgemeinschaft kritischer Polizisten und Polizistinnen fasst es in ihrer Einschätzung von Sonntag, dem 30. August so zusammen (Auszug):

„Gestern waren nach unserer gesicherten Einschätzung hunderttausende auf den Straßen der Berliner Innenstadt mit unterschiedlichen Demonstrationszielen und in mindestens sieben verschiedenen Demonstrationen unterwegs. Ihr Ziel: Änderungswünsche an Politik und Verwaltung bzgl. des Corona-Krisenmangements. Lediglich eine kleine verschwindende Minderheit der GegendemonstrantInnen stand in ihren Forderungen im Gegensatz zu den eigentlichen Taktgebern. Eine andere Minderheit – etwas mehr an Köpfen – bestand aus RechtsextremistInnen, die leider nicht „verschwindend“, also unauffällig, agierten. […] Es herrschte eine gelöste wie friedvolle Grundstimmung.“

Den kompletten Text -  quasi eine Richtigstellung der Informationen, die über die etablierten Medien verbreitet werden - lest Ihr hier: 

Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten - Pressemitteilung zum 29.08.2020

Innerhalb dieser Pressemitteilung findet sich u. a. der Satz „Wir sind entsetzt, was die offiziellen Medien wieder einmal aus den Fakten machen (müssen?).“ Und die Frage - eine Vermutung, die sich auch mir gestern förmlich aufgedrängt hatte: Haben staatlich bezahlte V-Leute den „Sturm“ (auf den Reichstag, d. V.) provoziert? War die hysterisch anmutende Frau auf der Bühne ein eingeschleuster agent provocateur? Der eine Aktion initiierte, die das Verbot der Demo durch Innensenator Geisel im Nachhinein als gerechtfertigt erscheinen lassen würde? Die BGA Kritischer Polizistinnen und Polizisten vermutet zudem in ihrer Pressemitteilung, dass sich unter der Menge, die die Treppen zum Reichstag erklomm, mehrere V-Leute befanden und stellt Fragen: In welcher Rolle? Mit welchen Tathandlungen? Von welchen Behörden? Ebenfalls dokumentiert - gewalttätige Übergriffe Polizeibeamter auf Demonstranten, die sie als Augenzeugen beobachteten und deren Opfer aufgrund massiver Gewaltanwendung nachhaltig mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben dürften.

Zurück zu meinen Beobachtungen während der Livestreams:

12:55 Uhr: Die Polizei fordert die Einhaltung des Mindestabstands ein. Ein Organisator der Demo erwidert, dass es unmöglich sei, den Mindestabstand herzustellen, solange die Demonstrationsteilnehmer durch die Polizei, die auch alle Nebenstraßen abgesperrt hatte, am Loslaufen gehindert werden. Fakt: Zu viele Menschen sind auf zu kleiner Fläche eingekesselt und haben keinerlei Möglichkeit, sich auf einem größeren Areal zu verteilen. Die Polizei lenkt nicht ein. Kurz darauf gibt die Polizei die Auflösung der Demo bekannt, Grund: Nichteinhaltung des Mindestabstands. Aus meiner Sicht war dies genauso geplant. Eine clevere Strategie, um die ohnehin unerwünschte Demo nach Aufhebung des vom Berliner Senats verhängten Verbots nicht stattfinden zu lassen.

Später: Auch nach Auflösung der Demonstration die Straßen Berlins bevölkert von Menschen, flankiert von Polizisten im Vollschutz, dahinter die Mannschaftswagen. Die Atmosphäre auf den Straßen friedlich, keinerlei Aggression. Polizeibeamte laufen in die Menge hinein und greifen sich offenbar wahllos Menschen heraus, führen sie ab. Jene lassen sich widerstandslos abführen, die Umstehenden protestieren nur verhalten.

Noch später: Auf einer Bühne am Reichstag peitscht eine schwarzgekleidete junge Frau mit langen blonden Haaren und Sonnenbrille mit sich überschlagender Stimme die Leute auf. In geradezu hysterischer Manier schreit sie: „Trump ist in Berlin! Die Botschaft ist hermetisch abgeriegelt! Wir haben fast gewonnen! […] Wir gehen jetzt da rauf und holen und heute und hier unser Haus zurück! Wir gehen jetzt da hoch und setzen uns friedlich auf die Treppen und zeigen Präsident Trump, dass wir den Weltfrieden wollen und dass wir die Schnauze gestrichen voll haben!“ Nun bin ich nicht sicher, ob Präsident Trump der richtige Ansprechpartner für Weltfrieden ist, sicher bin ich jedoch, dass diese Bühne, diese Frau, die Menschen davor, die später die Treppen zum Reichstag enterten (da unsere Medien nur noch Superlative kennen, wurde daraus „stürmen“) nicht zur Initiative Querdenken gehören. (Update: Die Medien berichteten zwischenzeitlich, die Frau ist eine Heilpraktikerin aus der Eifel und offenbar Anhängerin der Reichsbürger.) In der medialen Berichterstattung jedoch tut man, als sei dem so. Es wird der Anschein erweckt – und das kaum weniger hysterisch als jene junge Frau auf der Bühne – Anliegen der Menschen, die zur Großdemo in Berlin anreisten, sei es gewesen, den Reichstag zu stürmen. Differenzierung Fehlanzeige. Der Zweck – die Diffamierung von Menschen, die die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Deutschland fordern -, heiligt die Mittel.

Und am Sonntag dann, als ich mich über den weiteren Verlauf der Ereignisse in Berlin informieren will, das: Mehrere Videos, die brutale Übergriffe der Polizei auf Demonstranten dokumentieren. Eine Frau, die von vier (!) Polizeibeamten zu Boden geworfen wird. Sie schreit „Hört auf!“, ihre Brille fliegt davon. Ein Beamter versetzt ihr Faustschläge in den Rücken. Die Umstehenden sind entsetzt, spät versucht ein junger Mann einzugreifen – er hat keine Chance. Eine schwangere Frau wird von Polizisten am Boden festgehalten. Ein Mann, geistig behindert nach Aussagen Umstehender, die gegen die Brutalität der Beamten protestieren, wird, seine Arme hinter dem Rücken weit nach oben gerissen, von zwei Beamten zum Einsatzfahrzeug geschleift. Das sind nur einige Streiflichter – unter vielen Videos artikulieren Menschen, die vor Ort in Berlin waren, ihr schieres Entsetzen und ihre Fassungslosigkeit angesichts der vollkommen unverhältnismäßigen Aggressivität der Polizei gegenüber Demonstranten. Menschen seien eingekesselt worden, durch die Straßen getrieben wie Vieh und bedroht. Einer schreibt: Wir dachten, jetzt fängt der Bürgerkrieg an.  

Das also ist das Land, in dem wir gut und gerne leben?

Bundespräsident Steinmeier fordert nach dem "Sturm auf den Reichstag" die Verteidigung der Demokratie durch die Bevölkerung. Weiß er noch, was Demokratie hieße – ich empfehle hier Wikipedia: Demokratie – oder ist dieser Begriff inzwischen zur Sprechblase mutiert?

So. Ich habe fertig.  Und wenn dieser Blogbeitrag auch nicht vergnügungssteuerpflichtig ist – nicht für mich und wahrscheinlich auch nicht für Euch – so empfehle ich dennoch jedem, der an einem realistischen Bild der Geschehnisse am 29. August in Berlin interessiert ist, die Pressemitteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten aufmerksam zu lesen. Ein wahrer Lichtblick in Sachen Wahrheit inmitten von Agitation und Propaganda, mit denen unsere Politiker und Medien dem inneren Friedens Deutschland und dem Vertrauen in den Staat, soweit noch vorhanden, einen Bärendienst erweisen.

***

PS. Für alle, die befürchten, die Demos der Initiative Querdenken in Berlin trügen zur Verschärfung des Infektionsgeschehens bei - eine oft gelesene Meinung -, hier noch die Pressemitteilung der Querdenker auf Basis von Informationen des RKI (Robert-Koch-Instituts): Querdenken - Pressemitteilung zum Einfluss der Demonstration am 1. 8. auf das Infektionsgeschehen

Ebenfalls interessant: ein Meinungsbeitrag zur Zweckdienlichkeit unserer Alltagsmasken von Prof. Dr. Markus Veit, Apotheker und Geschäftsführer der Alphatopics GmbH, Kaufering, einer Beratungsfirma für die pharmazeutische Industrie, in der Deutschen Apothekerzeitung:

 Deutsche Apothekerzeitung - Hauptsache, Maske

 

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