Montag, 8. Juni 2020

Darf's ein bisschen mehr Natur sein?

Allmorgendlich steht mein Nachbar am Zaun und mustert seinen Garten wie ein Kompaniechef seine Truppe. Schreitet dann, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, langsam auf und ab, um jeden Quadratzentimeter seines wohlgeordneten Reichs akribisch zu scannen: Stehen alle seine Pflänzchen noch in Reih und Glied oder tanzt da etwa eines aus der Reihe? Hat sich gar ein gemeiner Zivilist im Gewande einer Wildblume in die Kompanie geschmuggelt, bereit, die akribische Ordnung zu unterwandern? Oder ist der kurzgeschorene Rasen schon wieder ein Zentimeterchen zu hoch?



Im Garten nicht nur meines Nachbarn schaut’s aus - so aufgeräumt und geschleckt wie in meinem Wohnzimmer nach grad absolviertem Budenschwung. Nur dient mein Wohnzimmer nicht als Lebensraum für Insekten und andere Tiere. Ist nicht Teil der Natur und beeinflusst in seiner Gestaltung außer meinem eigenen Wohlbefinden nichts und niemanden.

Der hierzulande überwiegende Wunsch nach einem kultivierten, bis in den kleinsten Winkel peinlich aufgeräumten Garten und die immer dringender werdende Notwendigkeit, natürliche Lebensräume und damit Artenreichtum zu erhalten, sind offenbar schwer unter einen Hut zu bringen. Scheint doch das Gros der Garten- oder Grundstücksbesitzer (Garten-)Kultur und Ästhetik mit Ordnung zu assoziieren, Natur jedoch mit Unordnung oder schlimmer noch: Verwahrlosung. Und scheint doch eines das andere auszuschließen.

Ist die Natur wirklich unordentlich? Im Gegenteil. Sie verfügt über ihre eigene – eben: natürliche - Ordnung, logischer und folgerichtiger zumeist als Menschenwerk. Stören wir diese - unterbrechen z. B. die Nahrungsketten durch immer mehr und stärker kultivierte Flächen – zahlen wir die Zeche irgendwann selbst. Und wenn nicht wir – nennen wir es die Gnade der frühen Geburt -, dann unsere Kinder und Enkel. Wollen wir das?

Ein Minibeispiel dafür, wie wir Menschen den Kreislauf der Natur im Kleinen beeinflussen: Seit ich denken kann, war der unbewirtschaftete, nur zweimal jährlich gemähte Garten vor meinem Balkon sommers ein Meer von Margariten. Von Jahr zu Jahr säten sie sich neu aus, weil’s ein optimaler, sonniger Standort für sie ist. Nicht nur eine Augen-, sondern auch eine Insektenweide, ein reichlich gedeckter Tisch für Bienen, Hummeln, Schmetterlinge. Der inzwischen der Vergangenheit angehört. Im Frühjahr wurde die Fläche durch neue Nachbarn übernommen, die ihr unverzüglich einen Stoppelschnitt verpassten. Soll auch so bleiben, wie meine Nachfrage ergab. Was folgt daraus? Weniger Nahrung für Insekten weniger Insekten  weniger Bestäubung von Obstbäumen und Gemüsepflanzen  kleinere Ernten. So einfach ist das. Mit der Vernichtung natürlicher Lebensräume vernichten wir, wenn auch zeitverzögert, unsere eigenen Lebensgrundlagen. 

Nun löst der Wegfall einer ca. 35 m² großen Blumenwiese noch keine Katastrophe aus, aber die geschilderte Begebenheit ist eben eher Regel- als Ausnahmefall. Und die quasi sterilisierten Flächen, sehr ordentlich, aber vollkommen nutzlos für jegliches Leben, summieren sich. Mit den sattsam bekannten Folgen wie Artenschwund, Artensterben.

In Deutschland wurde im Oktober 2019 eine Studie veröffentlicht, die bestätigt, was Entomologen bereits 2017 berichteten: Innerhalb von dreißig Jahren ist die Anzahl der Fluginsekten in Deutschland um drei Viertel zurückgegangen. (!) Verbunden damit ist ein dramatischer Rückgang der Vogelpopulation, geschuldet vor allem der intensiven Landwirtschaft. Dazu sagt Dr. Hans-Günther Bauer, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell in einem Interview mit der National Geographic: „[…] Besser wäre es, wenn jeder in seinem Garten anfangen und einfach etwas mehr Wildwuchs zulassen würde. Wiesenblumen und Insekten würden so zurückkehren und die Vögel wären wieder in der Lage, ihr Futter selbst zu finden. Ob im Wald, in unseren Gärten oder Äckern - wir Menschen räumen einfach viel zu viel auf. Das macht es anderen Lebewesen zunehmend schwerer, neben uns zu existieren.

Nun möchte nicht jeder sein Grundstück in ein Biotop verwandeln, so wie ich es zu halten pflege. Darf doch in meinem Gärtlein nahezu alles wachsen und überrascht mich die Wiese, zweimal jährlich gesenst anstatt gemäht, mit immer wieder neuen blühenden Wildpflanzen. Die da u.a. wären: Beinwell, orangerotes Habichtskraut, Hahnenfuß oder Riesenglockenblumen. Mit seiner Vielfalt und seinem gebändigten Wildwuchs zieht meine grüne Oase nicht nur allerlei Insekten an, auch Igel kommen zu Besuch oder - wie neulich - sogar eine kleine goldäugige Kröte und eine winzige Eidechse. Und im Frühling darf ich die allerschönsten Schneckenhäuser finden und meine Wildbienen beim Schlüpfen und Vorbereiten der neuen Brut beobachten. Ich mache der Natur ein Geschenk und sie dankt es mir überreichlich.

Meine Vorstellung von Gartengestaltung trifft nicht den Geschmack der Mehrheit, die auch im Grünen eine an ihrem Ordnungssinn orientierte Ästhetik bevorzugt. Doch lassen sich Kultur und Natur wirklich nicht miteinander vereinbaren? Hier einige Anregungen für kleinen Aufwand mit großem Nutzen für unsere Umwelt:
  • Englischer Rasen sieht zwar gepflegt aus, bietet jedoch keinerlei Lebensraum wofür auch immer. Vielleicht lasst Ihr das Gras auf einem kleinen Areal wachsen und sät darin zusätzlich eine bunte Wildblumenmischung aus? Minimalvariante: Beim Mähen einen Randstreifen als Zuflucht für die Insekten stehen lassen. (Ein zu häufiger und kurzer Schnitt schadet dem Rasen übrigens generell (laut Fachmann optimal: 4 – 5 cm) und während einer Hitzeperiode auch nachhaltig, da er verbrennt und verdorrt bis in die Wurzeln. 
  • Bitte verzichtet auf den Einsatz von Mährobotern. Sie vernichten nicht nur den Lebensraum der Insekten bis in den kleinsten Winkel, sondern zerstückeln auch die Insekten selbst und sind tödlich für Igel, die bei Gefahr nicht flüchten, sondern sich zusammenrollen. (Kann ebenfalls kleinen, neugierigen Hunden oder Katzen zum Verhängnis werden.) Durch den Nachtbetrieb von Mährobotern sind Igel besonders gefährdet, weil dämmerungs- und nachtaktiv.
  • Gefüllte Blumensorten sind für Insekten eine Mogelpackung, weil die dichten Blütenblätter ihnen den Weg zu den Pollen versperren.  Tipp: ungefüllte Sorten pflanzen, z. B. Wildrosen bzw. Bienenweide wie Lavendel, Katzenminze, Malven, Kapuzinerkresse (Blüten und Blätter sind auch essbar), Thymian, Rosmarin, Sonnenhut.  Der sehr dekorative Sommerfliederstrauch (im Volksmund auch Schmetterlingsstrauch genannt) in weiß, pink oder lila ist mit seiner Blütenpracht ein wahrer Insektenmagnet.
  • Anstelle eines Insektenhotels, wie ich es „betreibe“, könnt Ihr in einer Gartenecke etwas Totholz lagern, z. B.  Äste und Stängel aus Eurem Grünschnitt. Totholz gehört zu den lebendigsten Lebensräumen in der Natur überhaupt; die Insekten nutzen es als Nahrung, Versteck, Baumaterial oder Winterquartier. Als Brutstätte für Wildbienen (die kein bisschen angriffslustig sind, versprochen!) eignen sich zusammengerollte Bambusmatten, gegen Wind und Wetter mit einem Brett abgedeckt.
  • Hände weg von Schneckenkorn. Es lässt nicht nur Schnecken grausam verenden, sondern auch die Igel, denen sie als Nahrung dienen. Kann auch Katzen und Hunden zum Verhängnis werden, selbst ein Tierarztbesuch hilft da nicht mehr. Baut Ihr Gemüse an, dann wählt am besten ein Hochbeet oder schaut unter dem unten angefügten Link, welche anderen Varianten es gibt, um die Schleimer Eurem Gemüse fernzuhalten. Schnecken mit Haus richten übrigens kaum Schaden an, sondern fressen teilweise sogar Nacktschneckeneier. Wichtig: Morgens gießen anstatt abends, sonst feiern die Schnecken nachts Party, weil's so schön flutscht!   
  • Chemie zwecks Schädlingsbekämpfung: Sollte vermieden werden, da sie auch Nützlinge tötet. Im Internet gibt’s allerlei Tipps, wie man unerbetenen Gästen auf andere Art zu Leibe rückt. 
  • Frühjahrsputz ist besser als akribischer Herbstputz, da in den Stängeln von Pflanzen und im herabgefallenen Laub viele Insekten überwintern. Alte Samenstände dienen Vögeln zudem als Winterfutter. Ich schneide meine Pflanzen und Gehölze erst im Frühjahr vor dem Neuaustrieb zurück. Ausnahme: die Himbeere, die im Herbst geschnitten werden muss. Im Zweifelsfall schlau machen, was und wann. (Herbstlaub auf den Beeten anstatt in der Abfalltonne verhindert außerdem das Austrocknen der Erde/Erfrieren von Wurzeln und düngt den Boden. Wer Platz hat, kann zur eigenen oder Freude der Kinder einen Laubhaufen als Igelquartier aufschichten.)
Zweifellos ist nicht jeder so naturverliebt wie ich und mir ist klar, dass „Privatgärtner“ allein die Welt nicht retten werden. Und doch haben wir es in der Hand, im kleinen Maßstab, nämlich dort, wo wir schalten und walten, etwas zum Besseren zu wenden. Getreu der Devise „Sei du selbst die Veränderung, die du dir wünschst für diese Welt“ (Mahatma Gandhi). Ich freue mich hier über jegliches Umdenken, das ich beobachte, so z. B. darüber, dass die Hausmeister unserer Siedlung beim Mähen die Wildblumeninseln inmitten der Wiese stehen lassen.

Wir Menschen sind Teil der Natur, aber da gibt's ein Machtgefälle, das wir nicht übersehen sollten: Sie kommt ohne uns aus, wir jedoch nicht ohne sie. Wäre es also nicht besser zu kooperieren anstatt sie uns - auf oft außerordentlich unkluge Weise - untertan zu machen? Wenn nicht aus Liebe, dann wenigstens aus Vernunft.

PS. Wissenschaftler haben ermittelt, dass auf unserer Erde inzwischen drei Viertel des festen Landes nicht mehr ursprünglich, sondern kultiviert sind. Schau ich mir meine Heimatstadt Dresden an, glaub ich das unbesehen – die Innenstadt in den Jahren seit 1989 zur Steinwüste mutiert und auch außerhalb dieser schreiten Bebauung, Flächenversiegelung und Vernichtung ehemals grüner Flecken inklusive allem, was da einst kreuchte und fleuchte, unaufhaltsam voran. Adieu, urbane Natur.

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Links und Quellen:









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