Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns
mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns.
Dieser Rilke-Vers stand auf der Einladung zur Trauerfeier für meinen
Kollegen und traf die unfassbare Plötzlichkeit dessen, was geschehen war, auf
den Punkt. Zehn Jahre lang hatte ich mit F. in einer Abteilung gearbeitet, die
letzten davon Tür an Tür. Gerade erst hatte er mit uns seinen 60. Geburtstag
gefeiert. Nie war er krank gewesen, nicht einmal an einen erkältungsbedingten Ausfall
konnten sich meine Kolleginnen und ich erinnern. Doch dann - ein schwerer
Infekt der Atemwege, in erster Instanz falsch diagnostiziert und behandelt,
darauffolgend künstliches Koma und dabei Verletzung der Herzklappe, Operation, Krankenhausinfektion.
Aus.
Wir waren erschüttert, konnten es nicht glauben. Hatte uns doch seine
Frau nur wenige Tage zuvor am Telefon von der bevorstehenden Reha erzählt und
seinem Wunsch, anschließend möglichst bald wieder zu uns zurückzukehren. Und
nun plötzlich dieses Nie wieder. Nie wieder würde er morgens durch die Tür
treten, uns in seiner stillen, freundlich-verschmitzten Art Guten Morgen
wünschend. Nie wieder würde er uns begeistert von seinen Städtereisen erzählen
oder Konzerten, die er besucht hatte. Nie wieder würde er von seinen Söhnen
berichten, auf deren jungen Lebensweg er so stolz war.
Die Situation fühlte sich vollkommen surreal an. Wie es wohl stets sein
mag, wenn jemand, der gerade noch da war - selbstverständlich da war -, jene
Schwelle überschritten hat für immer. Ich träumte nachts von meinem Kollegen,
rief ihm im Traum zu: Hey, Du kannst Dich noch nicht einfach davonmachen! Doch
das Leben ging weiter. Wie es immer weitergeht. Vorübergehend betroffenes Innehalten
vor der Wucht der Tatsachen, doch schließlich kehrt alles zur Tagesordnung zurück. In mir jedoch, in
meinem Kopf, hatte sich unwiderruflich etwas verändert. All die ach so
wichtigen und unaufschiebbaren Aufgaben, Deadlines, Meetings, Pläne, die unaufhaltsam
wachsenden Papierberge und die permanente, hausgemachte Eile ringsum lösten bei
mir vor dem Hintergrund dessen, was geschehen war, plötzlich nur noch
Kopfschütteln aus. Und ich begann, intensiver darüber nachzudenken, welchen
Inhalten in meinem Leben ich welchen Stellenwert beimesse. Darüber, was
wirklich wichtig ist im Leben. Mir wichtig. Denn auch ich würde irgendwann „fehlen“
und auch dann ginge das Leben weiter, als wäre nichts gewesen.
Selbstverständlich täte es das. (Unentbehrlichkeit ist eine hübsche Mär. Gut für's Ego, aber von zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. Ein kurzes Ruckeln im Getriebe
vielleicht, doch bald schon ordnet sich alles neu.) Für mich stand damals fest: Ich würde auch künftig nur noch in Teilzeit arbeiten.
Kurz vor Ende meines fünfzigsten Lebensjahrzehnts habe ich viele
Menschen gehen sehen und viele von ihnen viel zu früh, legt man die
statistische Lebenserwartung – Frauen 84,1; Männer 79,1 Jahre - zugrunde. Die
vorerst letzte eindrückliche Erfahrung: ein vor Optimismus und Lebensfreude
sprühender leidenschaftlicher Weltenbummler, drei Jahre jünger als ich. 2018
hat Leukämie all seine vielen, noch unerfüllten Pläne und Träume durchkreuzt.
Auch hier noch lange nach seinem Fortgehen ein Gefühl von Ungläubigkeit, als
weigere sich der Verstand, die Unwiderruflichkeit des Geschehenen zu
akzeptieren. Hatte dieser höchst lebendige Mensch nicht gerade noch im
Biergarten neben mir gesessen und von dem tiny house geschwärmt, in dem er künftig
leben möchte?
Je älter wir werden, desto wahrscheinlicher ist es, dass wir mit dem
Thema Vergänglichkeit hautnah in
Berührung kommen. Und obwohl wir um das unvermeidliche Ende allen Lebens wissen,
bleibt uns der Tod doch weitgehend ein angstbesetztes Mysterium. Vielleicht umso
mehr, da ein Leben heute meist in der Obhut eigens dafür geschulter Personen,
hinter den Toren eigens dafür geschaffener Institutionen endet anstatt wie
früher im Beisein der Familie. Ein Bekannter, gebürtiger Vogtländer, erzählte
mir, dass er sich daran erinnere, wie in seiner Kindheit die Toten noch
aufgebahrt wurden in ihrem Heim, damit Freunde und Familie Abschied nehmen
konnten. Ich stelle mir vor, ein solches Erleben hilft dabei, Sterben als Teil
des Lebens und damit als Normalität zu begreifen. Dabei, die Angst davor ein
Stück weit zu verlieren. Entsteht Angst doch nicht zuletzt aus Nichtwissen.
Mein Wunsch, mich dieser Angst zu stellen und die Endlichkeit des
Lebens gelassener anzunehmen, ist der Grund dafür, dass ich seit unzähligen
Jahren versuche, mich dem Thema Vergänglichkeit und Tod immer wieder zu nähern,
es mir vertraut(er) zu machen. Auch ohne dringliche Notwendigkeit, z. B. durch
eine ungünstige Diagnose. Nein, in diesem Sinne sind meine Tage nicht
gezählt. Und doch sind sie es. Da ich 58
bin, dürften sogar ca. zwei Drittel davon bereits der Vergangenheit angehören, lege
ich die Statistik für Deutschland zugrunde.
Was fange ich mit dieser Weisheit an? Ausblenden, weil unangenehm? Dann
käme ich mir vor wie ein Kind, das die Augen schließt und sagt: Was ich nicht
sehe, ist auch nicht da.
Also habe ich mich für eine andere Variante entschieden: Ich betrachte
das Wissen um die Begrenztheit meiner Zeit als Elle, die ich immer wieder
einmal an mein Leben anlege. Ob nun zum Jahreswechsel oder Geburtstag oder auch
zwischendurch, wenn es mir nötig scheint. Die Fragen, die ich mir dann stelle,
sind jene: Fühlt sich dies hier an wie mein Leben, erkenne ich mich darin
wieder? Fühlt es sich erfüllt an oder fehlt doch Entscheidendes? Bin ich heute
und hier die Person, die ich gern wäre oder jedenfalls auf dem Weg dahin? Und
wenn ich von hier aus nach vorn schaue - lässt sich darauf eine glückliche
Zukunft gründen? Oder steht vielleicht eine Kurskorrektur an? Schließlich ist
dieses Leben keine Generalprobe, sondern meine erste und gleichzeitig letzte
Vorstellung auf diesem Erdenrund und zuallererst ich bin verantwortlich für
Handlung, Akteure und Bühnenbild. Arbeitstitel des Stückes: „Metamorphosen“.
Vor dem Hintergrund dessen, dass unser aller Lebenszeit begrenzt ist –
ja, wir nicht einmal wissen, wann der letzte Vorhang fällt -, wundere ich mich
oft darüber, auf welche Art und Weise viele Menschen durchs Leben gehen. Wie
unbewusst. Geradeso, als hätten sie unendlich Zeit. Auf später verschieben, was
wichtig wäre an jedem einzelnen Tag: Lebensfreude, Zeit und Aufmerksamkeit für
die eigenen Bedürfnisse und Wünsche, Zeit für die Familie, für Freunde. Zeit,
das Leben tief zu genießen und zu schätzen, was man hat - jetzt. Ist es doch
genau diese Stunde, dieser Tag, der uns wirklich gehört und die Zukunft für
jeden von uns eher vage. Könnte es doch morgen, übermorgen schon vorbei sein.
Und ich wundere mich darüber, welchen Themen Menschen ihre kostbare Zeit
zu widmen geneigt sind. Viel arbeiten, um viel Geld zu verdienen, um sich viel
leisten zu können und dann das Ganze von vorn. Die nächste Stufe auf der
Karriereleiter erklimmen. Nicht selten um den hohen Preis des Verlusts an
Privatleben und/oder Gesundheit. Parallel dazu all die kleinlichen Alltagsplänkeleien und unnötiges Machtgebaren, das Ringen um Status und seine Symbole und
das allgegenwärtige Tempo – offenbar ein Gesetz der Neuzeit -, unter dem zwar die
Lebensqualität aller leidet, das aber dennoch kaum je infrage gestellt wird. Nicht
selten im privaten Bereich sogar selbstauferlegt.
Warum nur sind so wenige gewillt, in die Speichen des Hamsterrades zu
greifen? Innezuhalten, um sich darauf zu besinnen, was sie sich eigentlich wünschen in und von ihrem Leben? Darauf, wie reich an Facetten es sein könnte, verließen sie nur einmal die ausgetretenen Pfade? Welche Talente und Gaben in ihnen schlummern, die es (wieder)zu entdecken gälte? Oder es erst dann tun, wenn Körper und Seele
bereits mit der roten Karte winken? Soviel Gier und Konkurrenzdenken und
Besitzstreben, Kampf und Krampf und Tanz ums goldene Kalb. Soviel - oft unreflektierte bzw. als alternativlos empfundene - Unterordnung unter gesellschaftliche Konventionen. Lässt sich darauf wirklich ein
erfülltes Leben gründen?
2004 zeigte das Hygienemuseum Dresden die Ausstellung „Noch mal leben
vor dem Tod“. Der Fotograf Walter Schels und die Journalistin Beate Lakotta
porträtierten 24 Menschen aller Altersstufen vor und nach ihrem Tod,
begleiteten sie über mehrere Wochen auf ihrem letzten Weg, der die meisten von
ihnen in ein Hospiz geführt hatte. Beide wollten mit diesem Projekt das Thema
Sterben und Tod aus der gesellschaftlichen Tabuzone herausholen und gleichzeitig
zum Nachdenken über das Leben anregen. Selten
hat mich eine Ausstellung so bewegt und ich kaufte mir damals das Buch zum
Projekt, das die ausführliche Geschichte jedes Porträtierten erzählt. Einer von
ihnen sagte den Autoren: “Heute werde ich siebenundfünfzig. Ich hatte weder die
Vorstellung, alt zu werden, noch so jung zu sterben, wie es jetzt kommt. Aber
der Tod kennt kein Alter. Ich warte auf den Tod. Was soll ich machen? Aber
jeden Tag, den ich habe, erlebe ich auch. Noch nie habe ich auf Wolken geachtet.
Jetzt sehe ich alles ganz anders, jede Wolke, jede Blume in der Vase. Auf
einmal ist alles wichtig.“ Später fügte er hinzu: „… Aber ich trauere auch
nichts hinterher, keiner einzigen Minute. Ich habe in meinem Leben immer das
gemacht, was ich wollte. Ich hatte eine Devise: Man kann nichts verpassen, man
kann lediglich nicht dagewesen sein.“
Ein versöhnliches Resümee, das auch ich so oder ähnlich einmal ziehen
möchte. Vielleicht hieße gutes Leben, in jedem Augenblick – und wäre es schon
morgen vorbei -, sagen zu können: Ich habe mein Leben gelebt. Es war rund.
Manchmal sitze ich abends in meiner grünen Oase und denke: Alles hier
wird mich überdauern. Die Häuser, die Bäume, die Wäschewiese, der kleine
Bachlauf. Schwer vorstellbar, aber real. Dann bleibt mir nur zu wünschen, dass
ich einst in Frieden Abschied nehme von diesem Leben. Versöhnt mit seiner
Endlichkeit. Weil ich weiß: Ich bin meinem eigenen Kompass gefolgt und durfte
deshalb alles erfahren und erleben, wonach mir der Sinn stand. Ich habe zu
meinen Werten und Überzeugungen gestanden und jeden noch so kleinen
Glücksmoment erkannt und gefeiert. Ich habe versucht, meine Möglichkeiten
auszuloten und durfte wachsen daran. Ich habe Liebe und Freude empfangen und
gegeben. Ich bedauere nichts, bereue nichts. Besser geht nicht.
PS. Aber fürs Erste bleib ich noch ein bisschen hier und singe gemeinsam mit dem großen Hans Albers Das letzte Hemd hat leider keine Taschen 😉
Zitate
Auf alle Menschen wartet gleicher Tod. Und keinen gibt es, der an diesem Tag schon weiß, ob er den nächsten noch erlebt. (Euripides, griech. Dramatiker, u. a. Medea, Iphigenie in Aulis, 480 v. Chr. oder bis 406 v. Chr.)
Und so im Wandeln eigentlichst belehrt: Unschätzbar ist, was niemals wiederkehrt. (Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832)
Uns gehört nur die Stunde. Und eine Stunde, wenn sie glücklich ist, ist viel. (Theodor Fontane, 1819 - 1898)
Alle Lebewesen außer dem Menschen wissen, dass der Hauptzweck des Lebens darin besteht, es zu genießen. (Samuel Butler, engl. Schriftsteller, 1835 - 1902)
Jemand hat mir mal gesagt, die Zeit würde
uns wie ein Raubtier ein Leben lang
verfolgen. Ich möchte viel lieber glauben, dass die Zeit unser Gefährte ist,
der uns auf unserer Reise begleitet und uns daran erinnert,
jeden Moment zu
genießen, denn er wird nicht wiederkommen. Was wir hinterlassen, ist nicht so
wichtig wie die Art, wie wir gelebt haben. Denn letztlich [...] sind wir alle
nur sterblich. (Captain Picard, Star Trek – Treffen der Generationen)
Über die Ausstellung:
DW - "Noch mal leben vor dem Tod"
Über die Ausstellung:
DW - "Noch mal leben vor dem Tod"
Sie haben mir so sehr aus dem Herzen gesprochen, nur hätte ich es nicht so gut formulieren können. Ich bin unendlich froh, dass es sich durch Zufall ergeben hat, dass mein Vater vor 2 Jahren im eigenen Haushalt noch ungefähr sechs Stunden aufgebahrt lag, bevor die Ärztin kam und er anschließend abgeholt wurde. Ich hätte nie geglaubt, dass das für mich eine so wichtige Zeit war, in der ich Abschied nehmen konnte, die sehr angenehm war im Beieinandersein mit ihm und mit der Familie. Und trotzdem fällt mir die Vorstellung immer noch schwer, dass mir liebe und wichtige Menschen und auch ich einmal nicht mehr auf dieser Welt sein werden. Diese Vergänglichkeit des Lebens zu begreifen, vor allem, sie zu akzeptieren, ist für mich nicht leicht. Das Leben jeden Tag zu nutzen und sich an allem Schönen zu erfreuen, habe ich mir zu eigen gemacht und es tut mir gut. Vielen Dank für diese hilfreichen Zeilen.
AntwortenLöschenLiebe(r) Unbekannte(r), vielen Dank für diese berührenden Zeilen. Ich empfinde es als Geschenk, dass Sie sich in meiner Betrachtung zu diesem wichtigen Thema so wiederfinden. Die Erfahrung im engsten Familienkreis, die Sie beschreiben, habe ich bisher noch nicht machen müssen und danke Ihnen sehr für das, was Sie darüber erzählen. Ein solch würdevoller und ruhiger Abschied sollte immer möglich sein - auch, um zu begreifen. Leben jeden Tag und all das Schöne und Gute darin ganz bewusst wahrzunehmen, ist wohl einzige Weg, um einst in Frieden Abschied nehmen zu können. Sicher nicht gern, außer es läge bereits ein langer Leidensweg hinter uns, aber doch mit uns im Reinen. Ich wünsche Ihnen ganz viel Freude an jedem neuen Tag.
AntwortenLöschenDankeschön und liebe Grüße Marlies Fuchs, wollte gar nicht als "Unbekannt" schreiben. Habe da wohl etwas übersehen
LöschenHerzliche Grüße zurück, liebe Frau Fuchs. Das ist ja schön, dass wir uns auf diesem Weg wiederbegegnen. Eine schöne Woche für Sie!
Löschen