Samstag, 26. Februar 2022

Im Krieg ist Wahrheit das erste Opfer

Kurz nach zwölf klingelte mein Telefon. Am anderen Ende eine gute Bekannte, geboren in der Ukraine und seit Jahrzehnten in Deutschland lebend. Sie hatte meinen WhatsApp-Status gelesen, in dem ich meinen Zorn kundgetan hatte über die hetzerische BILD-Berichterstattung mittels „recyceltem“ Videomaterial, lt. dem führenden deutschen Revolverblatt brandaktuell vom Einmarsch der Russen in die Ukraine stammend.

Raketeneinschlag in einer Kiewer Wohnsiedlung

Meine Bekannte findet seit Tagen keinen Schlaf mehr. Angst um Leib und Leben ihrer Familienangehörigen in Kiew und Umgebung, Angst davor, was als nächstes geschehen wird. Tagtäglich telefoniert sie mehrfach mit ihrer Familie in Kiew und mit ukrainischen und russischen Bekannten, um ein möglichst realistisches Bild der Situation zu erhalten. Verfolgt parallel dazu die Berichterstattung der russischen und ukrainischen Medien und vergleicht sie mit dem, was sie am Telefon erfährt von jenen, die die Geschehnisse aus nächster Nähe erleben müssen. Ich möchte mit Euch teilen, was sie mir erzählt hat, auch, weil ich gerade am eigenen Leib erlebe, wie unbequem – und in diesem Falle erschütternd – es ist, zu erfahren, dass die eigenen Denkmuster und Interpretationen falsch sein könnten, wenigstens in Teilen. Gerade begreife, dass auch ich mich vor Schwarz-Weiß-Denken und vermeintlichen Wahrheiten, die absolut scheinen, hüten muss.

Meine grundsätzliche Haltung war bisher: tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber der USA, der NATO, der Berichterstattung des Westens. Aus zahllosen Gründen, die sich aus der älteren und jüngeren Geschichte speisen und die ich Euch sicher nicht erläutern muss. Auf der Gegenseite Sympathie für Russland und Putin, der nie Weltherrschaftsgelüste erkennen ließ und bisher auf jegliche Provokationen, auch die massive NATO-Osterweiterung bis an die Grenzen Russlands heran, besonnen reagierte.  (Man stelle sich vor, Russland veranstaltete Manöver vor der amerikanischen Küste, wie umgekehrt – in ohnehin schon brisanten Zeiten - just die NATO im Schwarzen Meer. Oder Russland stationierte eigene Streitkräfte in einem Nachbarland der USA, wie die NATO in der Ukraine.)

Doch zurück zum Bericht „meiner“ Ukrainerin:

Kiew steht seit zwei Tagen unter Raketenbeschuss und ist abgeriegelt. Militärische Ziele und Flughäfen werden gezielt bombardiert, Wohngebiete von Raketen getroffen. Der Kiewer Flughafen ist geschlossen, die Ausfallstraßen verbarrikadiert – kein Einwohner kann die Stadt verlassen. Brücken wurden gesprengt, teils von russischen, teils von ukrainischen Streitkräften. Ohnehin wagt sich niemand auf die Straße, weil russische Soldaten, mit Militärhubschraubern in der Stadt gelandet, patrouillieren und nicht sicher ist, ob sie die Zivilbevölkerung  verschonen. Ein Autofahrer wurde von einem Panzer überrollt. (Nicht klar ist lt. Focus , ob es sich beim Fahrer des Panzers um einen russischen oder ukrainischen Soldaten handelt. Dass lt. diesem Bericht die Russen in ukrainischen Uniformen und mit ukrainischen Panzern operieren, lässt bei mir allerdings Fragezeichen entstehen.)

Die Schwester meiner Bekannten sitzt mit ihrer Familie im Schutzkeller ihres Wohnhauses, nahezu ohne Lebensmittel. Andere Einwohner Kiews halten sich in U-Bahn-Stationen verborgen, weil ihre Häuser keine Schutzkeller besitzen. Ebenso in Charkow. Ihre Mutter, in einem Dorf nahe Kiew lebend, hört jenseits des Flusses täglich Artilleriegefechte. Voller Angst erwartet man dort den Einmarsch russischer Truppen. 

Ich höre all das und finde keine Worte. So schwer, dies als Realität zu begreifen, mitten in Europa. Und so schwer, nein – unmöglich -, Trost zu spenden.

Welchen Grund führen die russischen Medien für den Krieg an? Ihre Antwort: die Nichtanerkennung der Gebiete Donezk und Luhansk (=Donbass), die sich 2014 als unabhängig von der Ukraine erklärten, durch die Ukraine. (Einen kurzen Blick in die Historie und Zerrrissenheit des Donbass zwischen Russland und Ukraine habe ich hier gefunden: www.zdf.de/nachrichten Und das Ziel? "Säuberung" der Ukraine von sogenannten Nationalisten und Entmilitarisierung des Landes. 

Sie erzählt mir weiter, dass in Kiew und auch in anderen Landesteilen der Ukraine Russen und Ukrainer bisher friedlich zusammengelebt haben. Auch die russische Sprache – viele dort sprechen russisch - nie zu Diskriminierungen geführt habe. Dies offenbar auch im Donbass nicht, wie eine Untermieterin ihrer Schwester, aus dem Donbass stammend, bezeugt. Hier wurden und werden mittels Propaganda wahrscheinlich bewusst Aversionen innerhalb der Bevölkerung geschürt. Die den Ukrainern u. a. eine grausame Ära der gemeinsamen Geschichte beider Länder ins Gedächtnis zurückrufen. So wurde die Ukraine in den 1930er Jahren unter Stalins Herrschaft wirtschaftlich massiv ausgeblutet bis hin zu Hungersnöten aufgrund beschlagnahmten Getreides. 1932/33 verhungerten vier Millionen Ukrainer. Der Stalin‘sche Terror ebbte auch in Folge nicht ab und kostete unvorstellbar viele Menschenleben.

Ergo: Diese und ähnliche Erfahrungen der ukrainischen Bevölkerung mit Russland lassen verstehen, weshalb man hoffte, durch Anbindung an EU und NATO Demokratie und nationale Sicherheit - Sicherheit vor dem Zugriff Russlands - zu gewinnen. Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Viele Ukrainer haben das längst erkannt und sich von der Regierung des amtierenden Präsidenten Zelenskyj abgewendet. Was aber keinesfalls heißt, sie wendeten sich Russland zu. 

Bitter – und diese Erfahrung mit westlichen "Heilsbringern" teilen die Ukrainer mit unzähligen anderen Völkern weltweit -: Man war nur Spielball von USA und NATO. Um sich jetzt in hilflosester, furchtbarster Lage zwischen zwei rivalisierenden Großmächten wiederzufinden. Denen beiden es nicht um das Wohl der Bevölkerung, sondern um territoriale Besitz- und Machtansprüche geht.

Wahrscheinlich hätte sich all das vermeiden lassen, hätte man nicht Putins in Richtung Europa und NATO ausgestreckte Hand beständig weggeschlagen. Nicht NATO-Truppen in der Ukraine installiert. Auf Diplomatie gesetzt anstatt Konfrontation. Sicher aber ist am Ende auch das nicht. Und so bleibt mir nach dem Telefonat mit meiner Bekannten nur zu konstatieren: Die Lügen sind möglicherweise beiderseits und jegliche Verlautbarungen immer auch interessengeleitet. Und – man lasse gerade auch bei Nachrichten, die vortrefflich ins eigene Weltbild passen, deren Wahrheitsgehalt man selbst jedoch nicht nachprüfen kann, Vorsicht walten...

Unfassbares Detail am Rande: In Dresden lebt eine große russisch-ukrainische Gemeinschaft. Nach Beginn der Kriegshandlungen feierten Russen in einem Restaurant: „Jetzt wird Putin es der Ukraine zeigen“. Mich ergreift Abscheu. 

Ich hoffe inständig, dass die Familie meiner Bekannten in Sicherheit ist und der Bevölkerung der Ukraine künftig Frieden beschieden sein wird. Umgehend zur Diplomatie zurückgekehrt wird. Sich die Ukrainer und Russen, ob in Dresden oder anderswo, nicht durch Propaganda und Hass spalten lassen.

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