Sonntag, 29. Dezember 2019

Plötzlich Prekariat oder Warum man seinem Bauchgefühl nicht blind folgen sollte

Eine Bemerkung vorangeschickt: Ich schildere meine Erfahrungen nicht, um Mitleid, Bedauern & Co. zu ernten. Schon deshalb nicht, weil es kein hartes Schicksal war, das mich unversehens-ungerecht getroffen hat, sondern sie Resultat meiner eigenen Entscheidungen war. Ich schildere sie, um meine Erfahrungen in Sachen Existenzunsicherheit/-angst zu teilen, vielleicht auch stellvertretend für viele, die sich in einer ähnlichen Situation befunden haben oder befinden. Wohl wissend, dass es da draußen Millionen Menschen gibt, die ein Leben am Existenzminimum und darunter führen, oft ohne Aussicht auf Verbesserung. Viele davon mit Kindern. Wie schwer ist das? Ich ziehe den Hut vor ihnen. 

Meine Geschichte taugt vielleicht auch als Denkanstoß für jene, die damit liebäugeln, einen Job anzutreten, der sie inhaltlich zu 100% begeistert, seine Frau/seinen Mann jedoch nur bedingt ernährt. Ich weiß, dass genau das auf vielen Webseiten propagiert wird: Folge Deiner Passion, Deinem Traum, Deiner Vision. Grundsätzlich absolut richtig, nur sollte man die „Risiken und Nebenwirkungen“ kennen. 

Zu mir: Meinem Lebensmotto „Es geht da lang, wo die Freude ist“ folgend, hatte ich mich 2016 von einem gut bezahlten, krisenfesten Job und Lieblingskollegen verabschiedet, um endlich mit dem Geld zu verdienen, was ich am besten kann, am meisten mag: mit Menschen kommunizieren, organisieren, kreativ sein, schreiben & lektorieren, täglich Vielfalt erleben, Neues lernen. Wie erfüllend. Feuer und Flamme war ich, selten vorher bin ich morgens mit solcher Vorfreude ins Büro geradelt und nachmittags mit solch tiefer Befriedigung zurück nach Hause. Der Haken daran: Das monatliche Salär reichte gerade aus, um Fixkosten + Lebensmittel abzudecken. 

Ich strich alle Anschaffungen, kündigte alle Verträge, die nicht zwingend notwendig waren, minimierte meine Lebenshaltungskosten auf das absolut Unverzichtbare. Und war stolz darauf. Zu lernen, mit wie wenig Geld ich auskomme, was alles ich nicht zu meinem Glück brauche. War ich doch schon immer ein Freund von Minimalismus, „leichtem Gepäck“. Verfechterin der Sichtweise „Was Du besitzt, besitzt Dich.“ Die ich nach wie vor unterschreiben würde. Wenn auch inzwischen unter Vorbehalt. 

Über Monate lief alles gut, auch, weil ich zusätzlich einen Nebenjob angenommen hatte. Er brach weg, aber – kein Grund zur Panik. Schließlich war da noch einiges auf der hohen Kante und ich hatte mich inzwischen auf bescheidenem Niveau zufriedenstellend eingerichtet. 

Bis irgendwann ungeplante Kosten aufliefen. Unfall – nicht selbstverschuldet zwar, aber die Versicherungen lieben es, miteinander Deals auszuhandeln, um die Kosten zwischen den Beteiligten zu splitten. Also war ich mit im Boot. Die Folge: Reparaturkosten und Einstufung in eine höhere Schadensklasse. Dann wurde mein Katerchen chronisch krank. Wer Tiere hat, kennt die Zahlen, die beim Tierarzt aufgerufen werden. Mein Erspartes schmolz wie Butter in der Sonne. 

Ein Jahr nach Antritt meines Traumjobs war ich auf dem Boden der Realität angekommen und zum ersten Mal meldete sich Existenzangst. Verbunden mit einem starken Gefühl der Demütigung und – Scham. Gerade auch gegenüber meinem mehrheitlich gut bis sehr gut situierten sozialen Umfeld. Meine Situation war mir peinlich; ich fühlte mich abgewertet – in meinen Augen. Deklassiert. Eine interessante Erfahrung insofern, als ich selbst Menschen nie nach ihrem finanziellen/sozialen Status, der Höhe ihrer Einkünfte beurteilen würde. Bei mir selbst tat ich es plötzlich.  

Wie hat sich mein Leben seither verändert? Wie habe ich mich verändert? In alphabetischer Reihenfolge, also kein Ranking nach Wichtigkeit: 

Besuche & Feiertage: Einladungen sind gut zu überlegen – kann ich mir die zusätzlichen Ausgaben für Speis & Trank leisten? Ich erinnere mich an Weihnachten 2018 und wie unangenehm es war, meine Familie als Gastgeberin um einen Obolus für’s Essen zu bitten. Aber im Zweifelsfall ist mir ein Abend mit Familie oder Freunden soviel wert, dass ich lieber auf anderes verzichte. 

Friseur: Glücklicherweise hab ich eine pflegeleichte Frisur. 1 – 2x jährlich reicht, davon abgesehen tun es DM und Rossmann. Inzwischen – yippieh! – habe ich ein Tutorial gefunden: Wie schneidet man Haare. Klappt super. 

Geschenke: Basteln, Kreatives gestalten. Ist sowieso individueller. Geht allerdings oft nicht ganz ohne Kosten ab. Finanzielle Großzügigkeit (oh, wie habe ich es geliebt, zu geben!) war gestern.

Katzen: Mein Luxus. Luxus? Nein. Sie sind meine mentalen Bodyguards. Unverzichtbare Tröster, fast möchte ich sagen: Retter, mehr als nur einmal. Also versuche ich, möglichst oft hochwertiges Futter anzubieten, damit sie mir lange & gesund erhalten bleiben. Sonst drohen Tierarztkosten.

Klamotten & Schuhe: Ich zehre vom Kleiderschrank der Vergangenheit. Kaputtgehen sollte besser nichts bzw. es wird dann halt ausgebessert. Wie man es früher tat. Secondhand & eBay sind Trumpf. War glücklicherweise schon immer ein "second hand girl", weil ich’s mit Trends nicht so habe und Qualität bzw. Individualität mag.

Kultur – Konzerte, Theater & Co.: Auf ein Minimum reduziert. Aua. Das ist etwas, was wehtut. Manchmal gibt’s Kultur umsonst, z. B. den Palais-Sommer und fast umsonst bis auf eine bezahlbare Jahresgebühr meine geschätzte Stadtteil-Bibo. Oder gute Filme auf YouTube. Dafür bin ich dankbar. 

Lebensmitteleinkäufe: Die Verbraucherzentrale mit ihrem Angebot an regionalen bzw. jedenfalls Öko-Lebensmitteln (die tatsächlich auch anders schmecken) ist Geschichte. Einkäufe im Konsum gönne ich mir ab und an quasi als Luxus, weil ich die Einkaufskultur  - klein, aber fein - schätze. Nun also Netto oder Lidl und  nur, was ich wirklich brauche. Was für’n Glück – das ist nicht viel. Bin kein Gourmet und wenn mein Kühlschrank ausschaut wie der eines Studenten – na und? Was nicht da ist, wird schon mal nicht zu Hüftspeck.

Reparaturen: Sind die wirklich notwendig? Ein Wasserhahn ist locker, tut aber der Funktion keinen Abbruch. Beim Auto, das ohnehin fast ausschließlich in der Garage steht, verweigert der Tacho den Dienst. Fahr ich halt vorübergehend mit Navi oder nach Drehzahlmesser. Die Handbremse an meinem betagten, aber heiß geliebten Neustadtradl gibt den Geist auf? Ok, da ist ja noch der Rücktritt. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen. Manchmal nervig, aber glücklicherweise hatte ich mit Provisorien noch nie ein Problem. Alte „DDR-Schule“. Man muss sich zu helfen wissen.   

Restaurant: Selten geworden. Wenn aber doch, ist's ein Fest - auch schön. 

Spenden: Von allen Einschränkungen trifft mich diese fast am stärksten. Tierheim, Obdachlose, DROBS-Verkäufer, Straßenmusiker – ich habe gern und selbstverständlich gegeben. Weil ich schon immer über ausreichend Phantasie verfügt habe, um zu ahnen, wie es ist, von der Hand in den Mund zu leben. Und den Spruch „Jeder ist seines eigenen Glückes Schmied“ angesichts einer Gesellschaft, die sich immer stärker in Vermögende und Arme splittet, überheblich, ja menschenverachtend, finde. 

Sport: Fitnesscenter bis auf weiteres passé. Als Ausgleich wird jede Strecke per Rad oder zu Fuß zurückgelegt. Joggen ist auch kostenlos, yeah!

Urlaub/Reisen: Selten bezahlbar. Aber tatsächlich lasse ich meine Katzen auch nicht gern lange allein. 

Wohnen: In der kalten Jahreszeit überwache ich die die Einstellung der Heizungen mit Argusaugen. Den Wasserverbrauch generell immer. Oder die Beleuchtung in meinen vier Wänden. Nur keine zusätzlichen Kosten generieren. In der Mitte des Jahres melden sich regelmäßig Bauchschmerzen beim Gedanken daran, wie die Nebenkostenabrechnung des Vermieters wohl ausfallen mag. (Großes Glück – meine Wohnungsgenossenschaft rechnet sehr fair ab.) 

Was habe ich während dieser Zeit an meinem Verhalten, meiner Denke beobachtet? Hat sich da was verändert?

Interessanter Weise habe ich einen analytischen Blick dafür entwickelt, wie Menschen sich kleiden. Tragen sie hochwertige Kleidung und Accessoires? Markenbekleidung? Bin – was Wunder - noch empfindlicher geworden für die Imbalance innerhalb unserer Gesellschaft. Den Reichtum auf der einen, die Bedürftigkeit auf der anderen Seite. Die Menschen, die beispielsweise in den Cafés auf der Dresdner Hauptstraße ihren Cappu genießen, für den DROBS-Verkäufer (DROBS: sehr gut gemachte Dresdner Straßenzeitung) jedoch keinen müden Euro übrig haben, ihn nonchalant übersehen. Die Rentner, die ebenda die Papierkörbe nach Flaschen absuchen.

Ab und an ein vollkommen neues und schuldbehaftetes Gefühl für mich: Neid. Nicht im Sinne, anderen etwas zu missgönnen, sondern: Ach, das möcht‘ ich auch mal wieder. Eher Traurigkeit als Neid. Und jedenfalls mit Scham verbunden.

Unterlegenheitsgefühle. Ab und an (nicht oft) fühl ich mich schon auch mal als Loser. Obwohl ich in solchen unsäglichen Kategorien noch nie gedacht habe. Sich selbst gegenüber ist man immer am unerbittlichsten. 

Diverse Ängste, die immer einmal wieder hochploppen: Hoffentlich bleiben die Katzen gesund, fällt kein Haushaltgerät aus – oder mir ein Zahn. Und so.

Wie steht's um positive Veränderungen?

Ja. Die gibt es. Stolz darauf, auf weit mehr, als ich je gedacht hatte, verzichten zu können ohne gefühlten Abbruch der Lebensqualität. Nach „fetten Jahren“ nicht von einem, wie ich heute weiß: verdammt hohen Lebensniveau abhängig geworden zu sein. An den allermeisten Dingen vorbeigehen zu können, ohne sie haben zu müssen. Ohnehin war ich nie der Typ Shopping-Queen. Reicht es dann doch einmal für ein Extra, ein neues Duftöl vielleicht oder Kosmetik, freue ich mich umso mehr. Ist nicht mehr alles selbstverständlich, genießt man solche "Leckerlis" umso stärker. Das mag ich.  

Und ich habe gelernt, Dinge anzunehmen, ohne mich sofort dafür revanchieren zu müssen. Jedenfalls manchmal. Es berührt mich sehr, dass da Menschen sind, für die früher ich die Gebende, Großzügige war, die mir jetzt Gutes tun wollen, finanziell und überhaupt Hilfe anbieten. Das war wirklich zu lernen, war ich doch früher stets die Unabhängige, die immer alles gewuppt bekommt. Die keine Hilfe braucht, immer auf die Füße fällt. Interessanter Weise fällt es mir leichter, von Menschen etwas anzunehmen, die wie ich weiß, selbst harte Zeiten kennen.

Was ich habe, schätze ich umso mehr. Hege und pflege es. Sehr befriedigend.

Ein weiterer Lerneffekt: Den launigen Spruch „Geld ist bunt bedrucktes Papier“ vertritt man solange mit Inbrunst, solange es locker reicht. Mir war Geld nie wichtig. Heute weiß ich: Weil es immer reichte, auch zum Geben. Ist es das, was mich das Leben mit der Erfahrung der letzten zwei Jahre lehren wollte? Dass man mit dieser Einstellung in einer materiell orientierten Welt nicht ungestraft davonkommt? Es heißt ja, dass ein Thema, das Du ignorierst, in Deinem Leben so oft wieder vorbeischaut, bis Du Dich darum kümmerst.

Ich habe inzwischen gelernt, dass es immer irgendwie weitergeht. Nicht unbedingt ein Grund, die Situation zu feiern, aber – sich zwischendurch zu entspannen. Immerhin hab ich ein Dach über’m Kopf, hungere nicht, bin gesund und da sind auch keine Kinder, die ich noch zu versorgen hätte. So what.

Eine Frage, die mir seit 2017 immer mal wieder im Kopf herumgespukt hat: Wie lange eigentlich dauert es, sich an eine finanziell anhaltend heikle Situation zu gewöhnen? Bis Geld nicht mehr der erste Gedanke morgens und der letzte abends ist? Die Angst, wie es weitergeht, nicht mehr mein Leben beherrscht?
Antwort: Lange. Bis man kapiert - siehe oben - es geht weiter. Es finden sich Lösungen. Es findet sich Hilfe.

Das Fazit aus allem – und damit der Bogen geschlagen zur Überschrift: Ich werde meinem Bauchgefühl wahrscheinlich kein zweites Mal folgen a la "Das wird schon" ohne sorgfältige und in die Zukunft gedachte Erwägung der Risiken. Weshalb ich nach Prüfung des Zahlenwerks für meinen Businessplan 2020 vorerst Abstand von der Idee genommen habe, als Lektorin und virtuelle Assistentin selbstständig zu arbeiten. 

Dennoch rangieren Zeit für mich und all meine Interessen und eine Arbeit, in der ich mich wiederfinde, auf meiner persönlichen Prioritätenliste unverändert vor der Höhe des Einkommens. 









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